Bibata Ibrahim Maiga

Esprit Bavard

In ihrem Tanz-Solo «Esprit Bavard» ringt die malische Künstlerin Bibata Ibrahim Maiga mit gesellschaftlichen Normzwängen und mit dem titelgebenden «geschwätzigen Geist». Begleitet von einem Gewirr aus Stimmen versucht sich die Protagonistin frei zu tanzen, wobei sie sich zunächst eines einengenden Kostüms entledigt und schliesslich in der Begegnung mit dem Publikum Frieden sucht. Das Stück insistiert auf der individuellen Ausdrucksfreiheit und Selbstbestimmung weiblicher Körper und zelebriert dabei das Tanzen als emanzipatorische und heilende Praxis.

Stücktext in deutscher Übersetzung

Hinweis: Dieser Stücktext kann verstörend wirken. Er umfasst einen inneren Monolog bzw. einen Dialog zwischen mehreren inneren Stimmen. Der Text gebraucht teils aggressive ableistische Sprache, durch die diskriminierende Normvorstellungen ausgedrückt werden und mittels derer die sowohl geistige als auch die körperliche gesundheitliche Verfassung der Protagonistin bewertet wird. Der Text stellt einen durch äussere soziale Einflüsse geprägten inneren Kampf dar. Er beinhaltet Suizidgedanken.

Sie da, Sie, mein Herr, warum antwortest du mir nicht?
Bist du etwa tot?
Oder stumm?
Was rede ich? Du hast mir nie geantwortet, wenn es wichtig war. Gnädige Frau, ich rede mit dir.
Wer bist du?
Wer bist du und warum ich?
Bist du etwa taub?
Ich weiss, dass du da bist und mich hörst.
Du denkst mich, ja, ich weiss es, ich weiss, dass du mich denkst und ich übrigens auch, auch wenn ich manchmal denke, ich denke allein, so bist du doch immer da, um für mich oder mit mir zu denken.
Kann mir bitte jemand sagen, dass ich nicht verrückt bin.
Wer kann mir sagen, Biba, bist du verrückt?
Ich höre auf zu denken und verbiete dir, in meinen Kopf zu kriechen, ich verbiete es dir, ich verbiete es dir, es ist mein Kopf und ich verbiete es dir. Von jetzt an ist für dich hier «Eintritt verboten».

Aber wer ist da, um mich in all dem gedanklichen Durcheinander, das mich bedroht, zu bestärken, mich gegen mich selbst und die Welt zu stellen. Diese Welt des blinden Konformismus, des missgeleiteten Glaubens, in der der Teufel seine Rolle des Kontrollmeisters, des bösen Engels und des Wohltäters spielt, in der das Falsche nicht mehr falsch erscheint, weil es zu schön ist, und das Wahre nicht mehr wahr, weil es zu zerbrechlich ist, oder die schrankenlose Liebe nur in unseren Erinnerungen, in unseren Träumen existiert, und ich, verloren zwischen diesen ganzen Gedanken, die sich wiedersprechen und verletzen, weil die Welt, unsere Welt hier, uns blendet und verhindert, dass wir ihre Hässlichkeit hinter all dem erotischen und unwiderstehlichen Streicheln sehen. Wir lassen uns in ihren Armen gehen, in ihren harten und hässlichen Händen, die sich gleichzeitig zart und gut anfühlen. Und so geniesse ich auch ihre Zärtlichkeit und Liebe, die es womöglich nicht gibt.
Wer soll ich für dich sein? Ich, die Tochter von Ibrahim Attino und von Fatoumata Diaty, wer soll ich für dich sein? Oder zumindest, wer bist du für mich?

Und bin ich es denn oder bist du es? Ich könnte auch du sein und du ich oder bin ich beide ganz allein? Oder könntest du auch ich sein und gleichzeitig du sein?
Dann bin ich sicher verrückt.
Die ganze Zeit, verrückt, ich verrückt, und niemand, der es mir ins Gesicht sagen kann. Wem wollen sie es denn sagen, wenn nicht dem verrückten Menschen. Ich verrückt und niemand kann es mir sagen…
Gut! Es ist entschieden, ich höre auf zu denken.

Bist du ein Geist oder ein Dschinn? Oder ist das beides dasselbe? Bist du ein Engel, Gnädigste? … Nein, alles, nur das nicht, zumindest glaube ich, wenn du ein menschlicher Engel wärst, würdest du auch Fehler machen, wie alle. Würdest du mich nicht Fehler machen lassen? Oder wäre es andersherum? Wenn ja, gib mir ein Zeichen, nur ein kleines Zeichen, ein ganz kleines Zeichen, Gnädigste. Los… ich muss verrückt sein, du auf den ich warte, ein Zeichen von dem unsichtbaren Mann… Egal, heute musst du mir trotzdem sagen, wer du bist, selbst wenn ich dich dafür erwürgen muss. Wenn du ich bist, muss ich mich eben erst selbst erwürgen, bevor ich an dich rankomme.

Ach, du machst dich über mich lustig? Weil der Herr denkt, dass ich es nicht wage. Und wenn ich sterbe, stirbst du vielleicht auch, und wenn ich sterbe und du stirbst nicht, komme ich zu dir zurück. Weil ich nicht alleine gehe. Es ist dein Fuss, mein Fuss in meinem Körper, warum nicht dein Fuss, mein Fuss in einem anderen Körper?
Süsse Freundin meines Herzens, meiner Seele. Gib mir ein Zeichen, sprich mit mir, ohrfeige mich, wenn du willst. Weisst du, die Leute denken, dass ich verrückt bin, sie denken, dass ich komisch bin und sogar dass ich komme und gehe, und immer bin ich es, die einsteckt, weil dich niemand sieht, Gnädigste, niemand denkt an dich, niemand ausser mir. Wir sollten wohl versuchen, miteinander auszukommen.

Neeeein! Und wenn ich plötzlich erkenne, dass ich es die ganze Zeit selbst gewesen bin? Ich, die dachte, ich sei du? Und wenn ich entdecke, dass es mich nie gegeben hat, all die gehörten Worte, die doppelten Ideen und unzusammenhängenden Gedanken nur von mir waren? Wenn ich mich auf einem anderen Gebiet entdecke, selbst wenn alles vollkommen klar erscheint, und ich herausfinde, dass ich wirklich … ja, wirklich verrückt bin.
Dann ist es entschieden, diesmal höre ich auf zu denken!

Aber wenn und wenn… und wenn… du… wenn du wirklich… neeeein… aber sollte es wirklich so sein…
Du bist da, ich weiss es, ich weiss, dass du da bist, und wenn ich weiss, dass es dich gibt, es ist nicht mein Kopf, es bist du in meinem Kopf, es ist nicht mein Körper, es bist du in meinem Körper, mein Herr. Aber warum, warum du in mir, in meinem Körper und nicht in einem anderen?

Mir war nicht klar, dass ich so viel Zeit und Kraft brauche, um das Funktionieren meines Kopfes zu verstehen, der vielleicht nicht mein Kopf ist, meine Gedanken, die vielleicht nicht meine Gedanken sind, meine Träume, die vielleicht nicht meine Träume sind.

Ich rede mit mir selbst, mein Herr, mein Herr, ich rede mit mir selbst, bin aber nicht allein. Mein Herr, Gnädigste, zeig dich, mein Freund, zeig mir wie dein Kopf aussieht oder ich hänge auf. Ich hänge dich und mich und höre ein für alle Mal auf zu denken.

Auszug aus «Esprit Bavard» («Geschwätziger Geist») von Bibata Ibrahim Maiga
Übersetzung ins Deutsche von Yvonne Griesel

 

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