Wir wagen wieder zu träumen
Die Choreografin, Tänzerin und Bewegungstrainerin Alice Ripoll ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des zeitgenössischen Tanzes in Brasilien. Geboren in Rio de Janeiro, studierte Alice zunächst Psychologie, bevor sie sich dem Tanz zuwandte. In ihrer Arbeit verbindet sie zeitgenössischen Tanz und brasilianischen Urban Dance und bietet Tänzer*innen den Raum, ihre eigenen Erfahrungen und Bewegungspraktiken auszudrücken. Sie gründete zwei Kollektive: REC im Jahr 2009 und SUAVE im Jahr 2014. Ihre Arbeiten wurden an verschiedenen Festivals in Brasilien und in Europa aufgeführt, unter anderem am Zürcher Theater Spektakel. Im August 2024 ist Alice Ripoll mit ihrem neuesten Werk «Zona Franca», das sie zusammen mit der Companhia Suave erarbeitet hat, zu Gast am Zürcher Theater Spektakel. Unsere Kuratorin Lea Loeb sprach mit ihr u.a. über die Entstehung des Stücks in einer spannenden Zeit des Übergangs.
Alice, du lebst in Rio de Janeiro und arbeitest seit einem Jahrzehnt mit der Companhia Suave zusammen. Ich bin neugierig zu erfahren, wie diese Zusammenarbeit begann und wie sie sich im Laufe der Jahre entwickelt hat.
Nun, alles begann mit einer Einladung von einem Festival. Sie baten mich, einen Tanzstil zu wählen – populär oder urban – und gaben mir drei Monate Zeit, ein neues Stück zu erarbeiten. Ich entschied mich für den Passinho, der von einigen Leuten als der erste rein brasilianische urbane Tanzstil angesehen wird. Er wurde von sehr jungen Menschen aus den Favelas in Rio de Janeiro entwickelt und war damals ziemlich neu.
Wir veranstalteten ein Vortanzen in einem Kulturzentrum hier in Rio. Daraufhin beschloss ich, mit 10 Tänzer*innen zusammenzuarbeiten, von denen die meisten den Passinho beherrschten, obwohl ich auch für andere Stile offen war, damit wir sie kreativ miteinander verbinden konnten. Gemeinsam entwickelten wir im Laufe von drei Monaten eine Choreografie. Während dieser Zeit gab ich ihnen Unterricht in zeitgenössischem Tanz und ein wenig Theater, wobei ich meine Erfahrungen aus der Arbeit mit meiner vorherigen Gruppe und aus meinen Recherchen einfliessen liess. Als Ergebnis haben wir ein Stück mit dem Titel «Suave» geschaffen...
…welches am Zürcher Theater Spektakel 2015 gezeigt wurde…
Ja genau. Während unserer ersten Vorstellungen beschlossen einige Veranstalter*innen aus Europa, unser Stück einzuladen, was zu unserer ersten Aufführung in Zürich führte. Damals waren die Tänzer*innen noch sehr jung, was für mich eine grosse Herausforderung darstellte. Da wir jedoch immer wieder Einladungen erhielten, beschlossen wir, als Gruppe weiterzumachen, und 2017 entstand unser zweites Stück, «Cria». Anfangs hatten wir keine Unterstützung oder Sponsoren; es war einfach unser Wunsch, zusammen zu bleiben. So ist es oft in Brasilien. Auch «Cria» war sehr erfolgreich und erhielt zahlreichen Einladungen. Unsere aktuelle Kreation, «Zona Franca», ist unsere dritte Zusammenarbeit, und es ist das erste Mal, dass wir mit dieser Gruppe internationale Unterstützung für ein Projekt erhalten haben.
Wir freuen uns sehr, dass «Zona Franca» im August im Zürcher Theater Spektakel auf der Seebühne zu sehen sein wird. Kannst du uns etwas über den Titel des Stücks erzählen? «Zona Franca» bedeutet im Deutschen so viel wie «freie Zone». Ich vermute, es bezieht sich auf die Freiheit innerhalb des choreografischen Repertoires. Ungefähr zehn verschiedene Tanzstile sind in diesem Stück miteinander vermischt. Aber gibt es noch einen anderen Bezug zu dem Titel? Hat er auch eine politische Konnotation?
Nun, sagen wir es so: Eine «Zona Franca» ist bei uns ein Gebiet, in dem die Steuerpflicht entfällt. Für mich ist dies eng mit der Art und Weise verbunden, wie die Tänzer*innen in neue Sprachen eintauchen, sowohl in der Musik als auch in der Bewegung. Da ist eine Entwicklung passiert, die darüber hinausgeht, was in meiner Generation typisch war. Wir waren damals sehr vorsichtig mit der direkten Nachahmung anderer. Wir hätten niemals Musik verwendet, ohne ihren Urheber zu kennen, und wir hätten sicherlich keine choreografischen Elemente ohne Erlaubnis übernommen.
Aber diese jungen Tänzer*innen sind in einer anderen Welt aufgewachsen. Ihre Herangehensweise an den Tanz ist nicht akademisch, sie haben nie eine formale Tanzausbildung an einer Schule absolviert. Stattdessen lernten sie ausschliesslich auf der Strasse und durch das Kopieren von Bewegungen, die sie im Internet sahen. Dadurch haben sie eine eigene Technik und einen eigenen Stil entwickelt. Das ist wie Sampling in der Musik. Brasilianische Funk-DJs zum Beispiel kreieren oft keine völlig eigene Musik, sondern mischen vorhandene Elemente zusammen. Manche setzen andere Klänge ein oder passen das Tempo an und schaffen so eine einzigartige Fusion.
Man hat das Gefühl, dass echte Originalkreationen immer seltener werden, was an sich schon faszinierend ist. Für mich ist dieses Konzept noch neu, und ich habe viel darüber nachgedacht und sowohl positive als auch negative Aspekte gesehen. Als die Gruppe choreografische Elemente aus anderen Regionen Brasiliens einführte, habe ich sie gefragt: «Wo habt ihr diese Choreografie entdeckt? Sie gehört doch jemand anderem.» Mir dämmerte, dass bei dieser jungen Gruppe solche Unterscheidungen nicht so klar sind. Sie lassen sich von einer Vielzahl von Quellen inspirieren, und ebenso werden die Menschen von unserer Arbeit angezogen. Es ist eine andere Dynamik, wie wir uns zur Kunst verhalten – eine Art «freie Zone».
Der Titel kann sich aber auch auf die Art und Weise beziehen, wie mein Geist arbeitet, wenn ich ein Werk schaffe. Ich greife auf verschiedene Elemente zurück, um ein Gefühl der Freiheit in meiner Fantasie zu kultivieren. Ich betrachte meine Werke zunehmend als Ziele, die ich erreichen möchte und die mit jeder Reise zugänglicher werden. Anstatt nach einer bestimmten Bedeutung oder Erzählung zu streben, ist mein Ansatz eher assoziativ. Du musst wissen, dass der portugiesische Begriff «zona» je nach Kontext sowohl «Zone» als auch «Durcheinander» bedeuten kann. So kann «Zona Franca» auch ein «grosses Durcheinander» sein.
Zu der Zeit, als du das Stück entwickeltest, ging die Pandemie gerade zu Ende.
Ja und hier in Brasilien war Covid sogar noch verheerender als in Europa, vor allem aufgrund unserer politischen Situation. Die Menschen danach wieder zu treffen, fühlte sich an, als käme man aus einem Kriegsgebiet. Ich meine, finanziell war es hart, vor allem weil wir keine angemessene Unterstützung erhielten. Die gewährte Unterstützung reichte nicht aus, um davon leben zu können. Viele Künstler*innen haben die Pandemiezeit nicht überlebt – nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch in der Realität. Auf diese Tragödien reagierten die Menschen auf unterschiedliche Weise. Einige entschieden sich, andere Wege zu gehen. Andere fanden in der Situation neue Kraft und fühlten sich angetrieben, noch mehr zu schaffen.
Es ist faszinierend, wie wir uns in dieser Zeit alle irgendwie zu verändern begannen. Die Dynamik unserer Gruppe hatte sich verschoben, sie wurde gewichtiger, beladen mit Erfahrungen, die sich wie Narben in uns eingebrannt hatten. Und dann war da dieses kollektive Gefühl, als ob wir an einem Wendepunkt angelangt wären. Dieses Gefühl verstärkte sich, als sich unser Land auf die Wahlen vorbereitete. In den Wochen vor den Wahlen schien sich niemand auf etwas anderes konzentrieren zu können. Die Spannung war so spürbar, wie ich sie in meinen 44 Jahren in Brasilien noch nie erlebt hatte.
Du beziehst dich auf die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022, bei denen der linke ehemalige Staatschef Luiz Lula da Silva den rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro herausforderte.
Ja genau. In den Wochen vor den Wahlen haben wir in unserem Proberaum gearbeitet, aber unsere Gespräche drehten sich immer um die politische Situation, was es schwierig machte, sich zu konzentrieren. Es fühlte sich an, als ob unser kollektives Bewusstsein von der Spannung des Augenblicks aufgezehrt wurde. Ich glaube, dass diese Erfahrung unsere Arbeit stark beeinflusst und ihre Richtung subtil geformt hat. Sie zwang uns, uns mit Fragen über Wendepunkte, über das Wesen von Entscheidungen und die Wege, die wir als Individuen und als Gesellschaft einschlagen, zu konfrontieren. Was tun wir, wenn unser Land den Weg der Zerstörung wählt? Wie werden wir reagieren? Sind wir in der Lage zu reagieren? Wie können wir reagieren, sowohl kollektiv als auch individuell? Diese Fragen durchdrangen unsere Gedanken und sickerten in unser tägliches Leben ein.
Obwohl sie in unserem Stück nicht explizit angesprochen wird, war diese Spannung unbestreitbar präsent und unterstrich die zugrundeliegenden Themen und Emotionen, die in unsere Arbeit eingeflochten wurden. Während der Aufführung lassen wir viele Luftballons auf der Bühne platzen. Sie stehen für eine Veränderung von allem, einen tiefgreifenden Wandel nicht nur in der Atmosphäre, sondern auch im Wesen jedes Einzelnen.
Dieses Element der Veränderung war jedoch nicht nur mit der politischen Landschaft Brasiliens verbunden. Es war auch innerhalb unserer Gruppe spürbar, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Gruppe nun schon seit etwa zehn Jahren bestand. Es gab einen Moment, in dem ich jedes Mitglied ansah, über seine individuellen Stärken nachdachte und überlegte, wie man diese auf die Bühne übertragen könnte. Es ist bemerkenswert, mitzuerleben, wie die Kreativität über die Jahre hinweg aufblüht und einen Höhepunkt erreicht, der einen dazu inspiriert, ein Leben lang zusammenzuarbeiten und zahlreiche Stücke gemeinsam zu schaffen. Die Realität ist jedoch, dass man nicht ewig daran festhalten kann. Das Leben bietet keine Garantien, und an bestimmten Punkten kann jede*r in neue, faszinierende Richtungen abschweifen oder sogar zu einer*m Agentin*en der Zerstörung werden. Es ist eine Erinnerung daran, dass Veränderungen unvermeidlich sind und nicht nur uns selbst, sondern auch alle anderen um uns herum betreffen.
Würdest du sagen, dass dieses Bild der Transformation die Essenz des Stücks ist?
Ich finde es ziemlich schwierig, eine Essenz für das Stück zu formulieren, weil es so viele Schichten darin gibt. Es fühlt sich an, als gäbe es etwa zehn verschiedene Stücke, die gleichzeitig aufeinandertreffen, wobei jedes einzelne einen Kreuzungspunkt für mich darstellt. Vielleicht liegt in dieser Verflechtung die wahre Essenz.
Ich mag «Zona Franca» auch deshalb so sehr, weil es so viele interessante Facetten hat: Es zeigt diese beeindruckenden Gruppentanzszenen, aber auch intime und sogar einige traurige Momente, die sich ein bisschen wie ein Kater nach einer Party anfühlen. In einer Szene wird auch ein Fahrrad eingesetzt.
Ja, und an diesem Fahrrad ist eine Tasche befestigt, die an einen Lieferservice erinnert. Das ist etwas, das sich hier in Brasilien sehr ausgebreitet hat: Die Zahl der Personen, die als Fahrradkurier arbeiten, stieg in den letzten Jahren erheblich an. Wir haben sogar einen Begriff dafür geprägt: «Uberisierung», der sich von Diensten wie Uber Eats und Uber im Allgemeinen ableitet, sich aber auch auf verschiedene andere Arbeitsbereiche erstreckt. Dieser Prozess der Uberisierung findet ja weltweit statt – er ist ein wirtschaftlicher Trend. Die Gruppe mit der ich arbeite, besteht aus Menschen, die in ihrer Kindheit und in ihren Familien Armut erlebt haben. Nach der Pandemie wurden die Auswirkungen der Uberisierung auf das Leben der Menschen noch deutlicher und bedeutender. Ich hatte das starke Gefühl, dass sich dies in dem Stück irgendwie widerspiegeln müsste.
Am Ende kann sich das Zürcher Publikum aber auf jeden Fall auf ein grosses, farbenfrohes und schönes Fest des Zusammenseins, der Bewegung und des Lebendigseins freuen.
Ja, zum Glück gab es gegen Ende der Proben schon Zeichen der Hoffnung. Es sah so aus, als könnten wir mit Optimismus von der Zukunft sprechen. Wir konnten wagen, wieder zu träumen. Ich glaube, wenn das Gegenteil der Fall gewesen wäre, wenn die Dinge anders gelaufen wären, wäre das Ergebnis dieser Arbeit ganz anders ausgefallen. Auch die Lockerung der Covid-Beschränkungen und die Rückkehr zur Normalität, zurück an den Arbeitsplatz, trugen zu diesem Gefühl des Feierns im Stück bei.
Es ist jedoch wichtig, sich einzugestehen, dass die Herausforderungen nach wie vor bestehen. Die Probleme, insbesondere die in Brasilien, sind noch lange nicht gelöst. Es ist immer noch Vorsicht geboten.
Credits
Interview: Lea Loeb
übersetzt aus dem Englischen von Franziska Henner