Berge als lebende Ahn*innen

Interview mit Amanda Piña

 

Berge mit ihren weiten Tälern und den miteinander verbundenen Gebirgszügen formen unsere Landschaften – und sie sind entscheidend für das Gleichgewicht unseres Planeten. Am Zürcher Theater Spektakel präsentiert die mexikanisch-chilenische Choreografin, Tänzerin und Kuratorin Amanda Piña ihre Arbeit «Mountains in Resistance – The School of Mountains and Water» in Form eines ortsbezogenen, performativen Spaziergangs über die Allmend. Dabei verbindet sie indigene Traditionen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und unserer Umwelt. Im Gespräch mit der Autorin und Kuratorin Paula Thomaka erklärt Piña, inwiefern die Anden mit den Alpen verbunden sind und was wir von Bergen lernen können, um unsere Verbindung zu ihnen wieder aufbauen und für den Schutz der Gesteinskörper sorgen zu können.

 

Paula Thomaka: 2014 hast du dein langfristig angelegtes Rechercheprojekt «Endangered Human Movements» lanciert, das sich mit menschlichen Bewegungspraktiken auseinandersetzt, gespiesen von Anthropologie, Geschichte, Philosophie, bildender Kunst, Tanz, Choreografie und zeitgenössisch-traditionellem indigenem Wissen. Was war der Ausgangspunkt für diese Recherche?

Amanda Piña: Mich interessierten schon immer verschiedene Tanzformen im Kontext von sozialen Praktiken, die jenseits der modernen kolonialen Matrix existieren, und ich bin an anderen Empfindungs- und Bedeutungswelten interessiert. Andere Arten des gemeinsamen Seins. Ich begann zu untersuchen, wie kulturelle Traditionen, Tanz, Bewegungsformen und soziale Praktiken in einigen Gebieten zusammen mit dem Verlust der Biodiversität verschwanden. Ich wollte im Rahmen dieses Projekts untersuchen, wie andere Formen des Seins durch derzeitige Systeme bedroht werden. Dabei zeigte sich, dass biologische und kulturelle Vielfalt irgendwie miteinander verbunden sind. Schlussendlich ist die Trennung von Kultur und Natur menschgemacht. Ist die biologische Vielfalt bedroht, erodieren auch Formen des Zusammenseins, soziale Praktiken und die Voraussetzungen für eine lebendige Kultur.

Was für eine spannende Beobachtung! War diese Erkenntnis von Anfang an Teil des Projekts? Inwiefern hat sich das Projekt im Laufe der Jahre verändert?

Es war ein langer Weg. Ich begann darüber nachzudenken, dass das Land, der Boden – insbesondere an Orten der Ausbeutung im globalen Süden, in Chile und Mexiko – Orte sind, von denen man lernen kann. Zuvor musste ich verstehen, wie Land und Boden bereits voller Wissen sind. Am Anfang konzentrierte ich mich darauf, wie indigene Kulturen Amerikas über Tiere und Pflanzen denken. Ich habe über lange Zeit von indigenen Lehrer*innen lernen dürfen. Dabei habe ich gelernt, den Boden nicht als Objekt, nicht als natürliche Ressource zu betrachten, sondern mich ihm vielmehr auf eine andere Weise zu nähern.

Die Dekonstruktion von Wissen ist ein entscheidendes Element in dieser Arbeit. Was bedeutet das?

Es geht weniger um die Dekonstruktion. Ich versuche, die Entstehung einer Ökologie von Formen des Wissens zu fördern. Wir können bestehende Formen des Wissens und die Vielfalt des Wissens, das per se verfügbar ist, in Frage stellen. Wir können sagen, «wir wissen», dass Wasser eine natürliche Ressource namens H2O ist. Dennoch können wir andere Formen des Wissens über Wasser und unterschiedliche Arten des Verständnisses, andere Wege des Seins mit Wasser und des Erlebens von Wasser angehen, um seine Bedeutung erahnen zu können.

Aber: Etwas zu dekonstruieren ist ein modernes koloniales Motiv, das der Tradition der Weissen angehört. Wir konstruieren und dekonstruieren. Aber die Traditionen, auf die ich zurückgreife, die indigenen Traditionen des Wissens und des Agierens, arbeiten nicht mit diesen Begriffen von Neuem und Altem. Deshalb muss nicht Bestehendes dekonstruiert werden, um «Neues» zu schaffen. Hier wird eher in Bezug auf Herkunft oder Abstammung gedacht: Indigenes Wissen ist angeborenes Wissen. In gewisser Weise ist es ein Wissen, das weit in die Geschichte zurückreicht und sich mit einem Miteinander befasst, das nichts mit der Zerstörung der Erde zu tun hat. Ich denke, es ist wichtig, diese Denk- und Handlungsweisen zu nutzen, um die Art, wie wir leben, zu verändern...

 

1/3 «Mountains in Resistance» von Amanda Piña. © Fortuna
2/3 «Mountains in Resistance» von Amanda Piña. © Fortuna
3/3 «Mountains in Resistance» von Amanda Piña. © Fortuna

Das Projekt «Mountains in Resistance – School of Mountains and Water», das du am diesjährigen Theater Spektakel zeigen wirst, kann als Schule des Vergessens der «modernen» oder kolonialen Vorstellung vom Menschen als «immer schon dagewesenes Wesen» betrachtet werden. Was meinst du damit?

Es gibt diese Vorstellung in Europa, dass man andere beherrschen kann und dass man niemanden oder nichts anderes braucht. Man steht nicht in Bezug zu einem Berg oder zu Wasser, sondern man kann Dinge konsumieren, ohne etwas zurückzugeben. Dies ist ein sehr exotisches Konzept, obwohl es heute weit verbreitet und eng mit dem kapitalistischen Denken verbunden ist.

In Zürich zum Beispiel: Denken die Menschen, die hier leben, dass sie von den Gewässern der Gletscher, die sie umgeben, genährt werden? Denken sie, dass ihre Körper aus diesen Gewässern gemacht sind? Ich habe verstanden, dass das, was indigene Älteste sagten, wahr ist: Unsere Vorfahr*innen sind nicht nur menschlich. Unsere Knochen bestehen aus den Knochen anderer Wesen, aus Geschöpfen aus dem Wasser, aus dem Wald und dem Ozean, die einst existierten. Der Gedanke, unabhängig zu sein, anstatt in Beziehung zu den Körpern von Wasser und Wäldern um uns herum zu stehen, ist ziemlich lustig, denn wir sind von allen anderen Formen des Lebens abhängig.

Kannst du uns noch etwas mehr über das Konzept hinter «Mountains in Resistance – School of Mountains and Water» erzählen?

Ich begann mich mit diesen Fragen zu befassen, als ich feststellte, dass Berge irgendwann verschwinden könnten. In Santiago de Chile gibt es seit vielen Jahren eine Megadürre, und die Wüste breitet sich aus. Der Bereich, in dem die Hauptstadt liegt, wird irgendwann Wüste werden.

Ausserdem tragen Bergbauprojekte zur Schmelze von Gletschern bei. Insbesondere Santiago de Chile und Zürich – die eine Stadt in den Anden, die andere in den Alpen – sind auf diese Gletscher angewiesen. Der Klimawandel wirft Fragen auf, da die Schmelze dieser Eiskappen zu erheblichem Wasserverlust führen könnte. In gewisser Weise spiegelt diese Situation die Themen des Projekts «Mountains and Resistance» wider.

Du verstehst Berge als lebendige Körper. Was meinst du damit? Und auf welche Weise können uns Berge helfen, Dinge zu verlernen?

Berge sind lebendige Körper. Auf seltsame Weise wird unser modernes koloniales Denken geprägt vom Gedanken, dass nur Menschen, Tiere und allenfalls Wasser einen Körper haben. Das wird uns in der Schule oder an Universitäten beigebracht. Aber was ist mit den Körpern der Berge und ihren komplexen Systemen, die Wasser als Lebensgrundlage produzieren? Wie funktionieren ihre Technologien? Lebendige Technologien, die auf irgendeine Weise die Voraussetzungen schaffen, dass Leben existieren kann, dass wir hier sein können. Wir wissen so wenig über ihr Wissen, weil wir über sie als Material, als Landschaft, als Objekte nachdenken. Während meiner Ausbildung bei indigenen Lehrer*innen lernte ich die Traditionen des mündlichen Wissens kennen. Diese Lehrer*innen sehen  Berge nicht als Material, sondern als lebendige Körper, als Wesen mit Intentionalität. Sie sprechen andere Sprachen und sehen mit anderen Augen, aber sie sind da, um mit uns in Beziehung zu treten und nicht nur, damit wir uns an ihnen bedienen können.

Du sagst, dass eine fürsorgliche Verbindung zwischen menschlichen Körpern und den Körpern der Berge notwendig ist. Wie können wir diese Verbindung (wieder) aufbauen?

Wenn man wie die Schriftstellerin und Aktivistin Gloria Anzaldúa denkt, geht es bei Kultur darum, eine Welt zu erschaffen. Unsere Gewohnheiten formen die Welt, in der wir leben. Wenn wir also weiterhin Berge als Ressourcen oder touristische Attraktionen verstehen, ist das die Welt, die wir weiterhin schaffen werden.

Aber wenn wir versuchen, Berge als Körper, als Gegenüber, als Wesen, mit denen wir in Beziehung stehen, zu verstehen, werden wir die Art und Weise ändern, wie wir die Welt bewohnen. Es könnte schon zu spät sein. Aber es könnte sich dennoch lohnen, es anzugehen. Ich versuche das in Performances und Ritualen zu praktizieren. Ich habe heute Morgen einen Text der Schriftstellerin und Akademikerin Sara Ahmed gelesen, in dem sie über Whiteness als Gewohnheit spricht. Eine schlechte Gewohnheit. Im Text geht es auch um Orientierung. Kultur ist so wichtig, weil sie produziert und praktiziert werden kann. Sie kann andere Formen des Seins in der Welt erschaffen.

Deine Projekte reisen um die Welt. Diesen Sommer zeigst du «Mountains in Resistance – School of Mountains and Water» mit Blick auf die Schweizer Alpen. Inwieweit passt du deine Werke je nach Ort an? Gibt es einen Unterschied zwischen dem Betrachten der Alpen und dem Betrachten der Anden?

Wenn wir die Schweizer Alpen nicht als Ort des Tourismus oder der Geologie, als natürliche Ressource oder Nation betrachten, sondern sie als Körper verstehen, die für die Produktion von Wasser essentiell wichtig sind, geht diese Verwicklung über die Schweiz hinaus. Dann können wir Berge, Flüsse, Mündungen und Gletscher als Bewohner*innen begegnen, die wissen, wie dieses fantastische Gleichgewicht des Lebens aufrechterhalten werden kann. Im Projekt frage ich darum: Was wird mit dem Klimawandel an diesen Orten passieren? Was sind die Prognosen? Wie können wir uns anpassen oder auch nicht? Aber auch: Wessen Klimawandel ist das, wenn wir wissen, dass 100 Unternehmen 70% der globalen Kohlenstoffemissionen produzieren? Wir alle werden für deren Profite mit unserer Zukunft bezahlen.

Ich stelle mir auch vor, dass Länder in Zukunft sehr unterschiedlich aussehen könnten, wenn wir darüber nachdenken, was möglich ist, um Leben zu fördern. Sie würden eher agroökologischen Einheiten entsprechen, die mit dem Land und den Fähigkeiten von Berg-, Wasser-, Wald- und Eis-Ozean-Körpern in Beziehung stehen, um Leben zu beherbergen. Der Wasserkreislauf, der die Menschen in Zürich ernährt, geht weit über die Schweiz hinaus. Er reicht vom Ozean zum Berg und vom Berg zum Ozean zurück. Der Trend, sich im eigenen Land verstecken zu wollen, wird sich im Umgang mit dem Klimawandel also als wenig nützlich erweisen: Wenn wir den Boden als Lehrer*in betrachten, können wir lernen, dass das, was in den Anden passiert, die Alpen direkt betrifft.

Amanda Piña präsentiert ihre Arbeit «Mountains in Resistance – The School of Mountains and Water» am Zürcher Theater Spektakel 2023.

 

Credits

Interview: Paula Thomaka

Aus dem Englischen übersetzt