«Storytelling ist der Ursprung des Theaters»
Interview mit der Storytellerin und Performerin Wangari Grace und dem Musiker und Produzenten Sven Kacirek
In seinem Buch «How Europe Underdeveloped Africa» aus dem Jahr 1972 beschreibt der guyanische Historiker Walter Rodney, wie afrikanische Länder von den europäischen Kolonialregimen absichtlich ausgebeutet und in ihrer Entwicklung behindert wurden. Das Buch erläutert die anhaltenden Auswirkungen dieser Zeit auf den Kontinent und hilft dabei, die globale Ungleichheit heute besser zu verstehen. Als der deutsche Musiker und Produzent Sven Kacirek das Buch vor einigen Jahren las, dachte er, dass es in die Lehrpläne der europäischen Schulen aufgenommen werden sollte – wohl wissend, dass dies Wunschdenken bleiben sollte. Stattdessen begann er 2020 mit der in Nairobi lebenden Storytellerin Wangari Grace an dem Projekt «Kolonialismus – Eine musikalische Erzählung für Kinder» zu arbeiten. Die Idee hierzu basiert auf dem Inhalt von Rodneys Werk, verbindet diesen aber mit Storytelling, der beliebtesten Performance-Technik auf dem afrikanischen Kontinent. Schon bald nach ihrem ersten Treffen begann der Lockdown. Nichtsdestotrotz begannen die beiden Künstler*innen damit, die verschiedenen Kapitel ihres Werks zu schreiben, die Entwürfe des jeweils anderen zu lesen und zu kommentieren und so gemeinsam die musikalische Erzählung zu entwickeln. Auf der Bühne ist Sven für die Musik und Wangari für die Erzählung zuständig. Nach einer Deutschlandtournee im Juni bringen die beiden nun eine leicht veränderte Version der Performance ans Theater Spektakel in Zürich. Im Gespräch mit Ann Mbuti reden sie über die schwierigen Hintergründe ihres Stücks und die Kraft des Storytellings.
Ann Mbuti: Wangari, Du bist eine Storytellerin aus Kenia, einem Land, in dem Storytelling und die mündliche Tradition eine zentrale Rolle für das Verständnis der Geschichte und Kultur spielen. Wie bist Du zum Geschichtenerzählen gekommen?
Wangari Grace: Ich bin mit der Tradition des Storytellings aufgewachsen. Meine Mutter mochte Bücher mit Geschichten, ich fühlte mich da vor allem mit meiner Muttersprache verbunden. Ich hatte nie vor, Storytellerin oder Künstlerin zu werden, aber nach dem High School-Abschluss suchte ich nach einer Beschäftigung, bevor ich aufs College ging – und hörte von einem Wandertheater. Ich habe einen schauspielerischen Hintergrund, und eine*r meine*r Regisseur*innen in dieser Zeit war ein Geschichtenerzähler. Das hat mich zu dieser Theaterform gebracht.
Welche Rolle spielt das Storytelling in Deiner Praxis?
WG: Ich liebe das Storytelling, weil es der Ursprung des Theaters ist. Vor allem das afrikanische Storytelling, das sehr interaktiv ist und sich sehr vom europäischen unterscheidet. Einige meiner europäischen Freunde sagen, dass das, was ich mache, kein Storytelling sei, sondern Erzähltheater, weil meine Art des Geschichtenerzählens alle anderen Aspekte des Theaters – wie Schauspiel oder Dialog – mit einschliesst. Es ist flexibel und eignet sich für jüngere Kinder, Teenager und für Familien – und es arbeitet mit der Energie des Publikums. Deshalb habe ich mich in diese Methode verliebt.
Wie nutzt ihr das Storytelling in der Performance, die ihr am Theater Spektakel zeigt?
WG: Bei uns in Kenia ist der Kolonialismus ein wichtiger Teil des Lehrplans der High School. Aber es ist ein Unterschied, ob man Dinge lernt, um Prüfungen zu bestehen, oder ob man sie auf sein eigenes Leben bezieht. Als ich anfing, durch Europa zu reisen, wurde mir klar, dass der Kolonialismus immer noch einen grossen Teil meines Lebens bestimmt. Als die Idee für das Projekt aufkam, hielt ich es für sehr wichtig, über dieses Thema zu sprechen – ausserhalb des Lehrplans.
Was erwartet das Publikum, wenn es die Aufführung besucht?
WG: Wir nennen es eine «Safari durch den afrikanischen Kontinent zwischen 1880 und 1990». Wir verwenden Musik, eine Menge Fragen und Antworten und Requisiten. Im Kapitel über den Kongo gibt es zum Beispiel Pralinen in Form von Händen, die wir zu Beginn an das Publikum verteilen, damit es sie essen kann. Es fängt sehr leicht an, aber dann geht es weiter mit dem von Gewalt geprägten Kapitel über die belgische Kolonie.
Sven Kacirek: Jedes Kapitel hat ein anderes Thema. Die Geschichte über Kenia ist zum Beispiel eine Liebesgeschichte. In Namibia geht es um das Massaker an dem Volk der Hereros, aber wir erwähnen nie den Völkermord, sondern erzählen die Geschichte aus der Sicht eines Kindes, das über sein Leben spricht. Nach jeder Show gibt es eine Diskussion mit den Zuschauer*innen, in der sie ihre Meinungen und Ansichten über die Show und ihren Inhalt mitteilen oder Fragen stellen können.
Wie interagieren die beiden Elemente – Musik und Storytelling – während der Performance?
SK: Zuerst kommt das Erzählen und die Musik folgt Wangari dann auf der Bühne. Sie erzählt die Geschichte jedes Mal ein wenig anders, nimmt die Energie und die Atmosphäre des Publikums auf. Die Art und Weise, wie sie mit ihnen interagiert und sich auf sie einlässt ist nie gleich. Ich habe viele Stichwörter und höre sehr genau zu, damit ich die Musik so strukturieren kann, wie Wangari die Geschichte erzählt. Zwischen den Kapiteln verlässt sie die Bühne, um sich umzuziehen, und dann gibt es nur Musik. Da entsteht dann Raum für die Zuschauenden, um das eben Gehörte zu verdauen.
Wie hilft das Geschichtenerzählen im Zusammenhang mit dem komplexen Thema Kolonialismus?
WG: Kolonialismus ist ein schwieriges Thema. Deshalb war und ist es wichtig, es so aufzuschlüsseln, dass man keine Akademiker*in oder Student*in sein muss, um davon berührt zu werden. Die Art und Weise, wie es in wissenschaftlichen Kreisen verpackt wird, ist nicht so, dass die Mehrheit der Menschen es wirklich verdauen kann. Eine Geschichte sollte auf so einfache Weise erzählt werden, dass die gesamte Forschung, die wir betrieben haben, auch darin enthalten ist.
Die Stimmen der Frauen werden in diesem Kontext häufig nicht gehört. In meinen Projekten, bei denen ich viel mit traditionellen Geschichten arbeite, versuche ich immer, die Geschichten über Frauen in unterschiedlichen Gesellschaften zu finden. Meine Arbeit als Storytellerin besteht darin, die Fakten, Zahlen und Statistiken zu betrachten und die Geschichten hinter all dem zu erzählen.
Warum ist es wichtig für euch, Kinder und junge Erwachsene anzusprechen?
WG: Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch, unabhängig vom Alter, seine eigene Sichtweise auf viele Dinge hat. Es ist wirklich schwer, Perspektiven zu ändern, aber wenn man die Meinung eines Kindes ändert, indem man ihm eine andere Welt zeigt, ändert man nicht nur dieses eine Kind, sondern eine ganze Generation. Hier in Kenia ist der Kolonialismus ein Thema, das den jungen Menschen in den Schulen vermittelt wird. Diese jungen Menschen werden bald Wähler*innen sein. Für mich ist es wichtig, sie mit diesen Themen zu erreichen, damit sie fundierte Entscheidungen treffen können, die nichts mit dem zu tun haben, was sie nur im Unterricht gelernt haben.
Wangari Grace und Sven Kacirek zeigen «Kolonialismus – Eine musikalische Erzählung für Kinder» vom 29. – 31. August 2023 am Zürcher Theater Spektakel. Weitere Informationen
Credits
Interview: Ann Mbuti