Der Liebestod des Mohamad Bin Daoud

Ali Chahrour schafft Bilder der Poetik und der Sinnlichkeit. Das Stück «The Love Behind My Eyes» basiert auf einer tragischen Liebesgeschichte aus dem 9. Jahrhundert: Die Legende dreht sich um eine Liebe, die unerfüllt bleiben muss. Eine verbotene Beziehung führt zu grossem Kummer, so gewaltig und untröstlich, dass er im Tode mündet. Wie viele solcher Geschichten gibt es wohl? Inspiriert von der Fatalität des gebrochenen Herzens erzählt Chahrours Stück in den Sprachen des Tanzes, der arabischen Lyrik und der islamischen Mystik über Trauer, Unterdrückung – aber auch von der unbeirrbaren Stimme des Herzens. «The Love Behind My Eyes» skizziert eine alte Geschichte vom Schmerz und Protest einer verbotenen Liebe, die heute so aktuell bleibt wie eh und je. Der folgende Text von Autorin Anna Bertram wirft einen Blick in die Vergangenheit und begibt sich auf die Spuren des Mohamad Bin Daoud, dem Protagonisten der Geschichte.

Mesopotamien, 9. Jahrhundert. Die Stadt Bagdad im heutigen Irak ist mit ihren entstehenden Universitäten eine blühende Metropole und das Zentrum der Region. Dort wächst der junge Mohamad Bin Daoud auf, Sohn eines islamischen Theologen. Von seinen Eltern streng muslimisch-orthodox erzogen, geniesst er auch eine ausführliche Bildung. Schon früh verfasst er religiöse Schriften und Poesie, und wird bereits mit 15 Jahren Professor von rund vierhundert Jurastudenten. Eines Tages, so die Überlieferung, verliebt sich Mohamad Bin Daoud in Mohamed Bin Jamea, einen schönen, jungen Mann aus Isfahan. Doch diese (verbotene) Liebe bleibt nicht nur unerfüllt, laut Legende hat sie für Bin Daoud fatale Folgen….

Die Geschichte um Bin Daoud und Bin Jamea hat keinen eindeutigen Ursprung, sie basiert auf Erzählungen und mündlichen Überlieferungen. Tatsächlich aber ist der Autor der Erzählung wahrscheinlich kein anderer als Mohamad Bin Daoud selbst: Denn in der Zeit des mittelalterlichen Islams, als Wissenschaft und Literatur auf der arabischen Halbinsel florierten, verfasste auch der junge Rechtsgelehrte Gedichte und Texte, wie es für junge gebildete Männer üblich war. So finden sich in seinen gesammelten Schriften, den «Kitāb al-Zahrah» (Das Buch der Blume), zahlreiche sinnliche Liebesgedichte.109 davon bilden einen Zyklus mit dem Namen «baʿḍ ahl hādhā al-ʿaṣr» (Ein Mann unserer Zeit) und erzählen über die Leidenschaft zweier Männer, deren Namen jedoch unbekannt bleiben. Die poetische Sprache lebt von ihrer Erotik und Zärtlichkeit.

Die Gedichte geben darüber hinaus Hinweise auf autobiographische Züge. Über die Jahre und Jahrhunderte wurde die Erzählung immer wieder erweitert und ergänzt – von wem genau, bleibt bis heute unbekannt. Durch ihre stete Erweiterung blieb die Geschichte nicht nur lebendig, sie wurde zum Mythos. Die Motive der Schriften bilden das Grundgerüst der Legende, so auch das tragische Ende der Liebesgeschichte von Bin Daoud und Bin Jamea: Ersterer wird plötzlich und unerklärlich krank, und erliegt in jungen Jahren seinem rätselhaften Leiden. Obwohl die genaue Todesursache nicht bekannt ist, macht Bin Daoud seinem Lehrer Niftawayh ein Geständnis im Sterbebett: Er sterbe aufgrund seiner verbotenen Liebe zu einem Mann an einem gebrochenen Herzen.

Bin Daouds Schicksal wird bis heute kontrovers diskutiert. Denn sein Gefühlsbekenntnis ist in der islamischen Theologie einzigartig und wirft ein Licht auf die Beziehung zweier Männer im (mittelalterlichen) Islam. In der traditionellen Auslegung wurde stets bestritten, dass es sich hierbei um eine Liebesgeschichte handle. Die metaphernreiche und verzierte arabische Sprache der Ghazalverse, in der die Lyrik der Zeit verfasst wurde, erlaubt einen breiten Interpretationsspielraum – so wird meist eine intellektuelle, rein platonische Beziehung zwischen zwei gebildeten Männern angestrengt. Sie wird als Brüderschaft gelesen. Aktuelle Positionen in- und ausserhalb des arabischen Kulturraums meinen hingegen, Hinweise auf eine homoerotische Auslegung der islamischen Theologie durch Bin Daoud zu finden. Darin sind Gefühle zwar zugelassen, das Ausleben dieser aber angesichts des damaligen religiösen Umfelds streng verboten.

Der Mythos der Liebenden Bin Daoud und Bin Jamea wird nie mehr wahrheitsgetreu auf historische Tatsachen geprüft werden können. Wir wissen auch nicht, wer Bin Jamea war und ob er die Liebe Bin Daouds erwiderte. Wusste er überhaupt davon? Blieb die Liebe ein schmerzlicher Gedanke Bin Daouds, den er nur auf dem Papier ausleben konnte? An dieser Stelle kann die Kunst das, wo die Wissenschaft erschöpft ist: Mittels Imagination und Fantasie unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen nachgehen und die Geschichten weiterspinnen. Ali Chahrours Adaption der geheimnisvollen Geschichte um Bin Daoud erlaubt es, sie aus unserer Gegenwart zu befragen, an und mit ihr Tabus zu untersuchen und darauf hinzuweisen, wie Abweichungen von der Norm leider weiterhin gefährlich bleiben. Übersetzt in Körpersprache und ein visuelles Erlebnis spinnt Chahrour die Legende weiter, aktualisiert sie und macht «The Love Behind My Eyes» so zu einer Metapher für das subversive Potential von Sprache und Imagination.

 

Ali Chahrour performt «The Love Behind My Eyes» vom 19. - 21. August 2022 in der Aktionshalle der Roten Fabrik. Weitere Informationen

Credits

Text: Anna Bertram
Fotos: Luna Abi Raad & Candy Welz