Über das allgemeine Recht zu atmen

Von Achille Mbembe

 

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Es besteht kein Zweifel, dass unsere Welt in Aufruhr ist. Viele haben versucht, die Zeit zu beschreiben, in der wir uns befinden. Diesen unsicheren Moment, der nichts verspricht, diese Welt, die immer mehr von ihrem eigenen Untergang beherrscht wird. Wir können in vielen Dingen anderer Meinung sein, aber die Tatsache lässt sich nicht leugnen, dass dies eine Zeit ist, die durch eine ungleiche Verteilung von Verletzlichkeit sowie durch Gewaltformen definiert ist, die gleichzeitig futuristisch und archaisch sind (Achille Mbembe und Felwine Sarr, Hrsg.; Politique des temps, Paris, Philippe Rey, 2019, S. 8–9).

Für die meisten von uns, vor allem in den Teilen der Welt, in denen die Gesundheitssysteme durch Jahre organisierter Vernachlässigung verwüstet wurden, sind Krisen wie Covid-19 immer ein bisschen mehr als bloss Gesundheitskrisen. Katastrophen und Unglücke scheinen an jeder Ecke zu lauern. Da es heute nur wenige Krankenhausbetten oder Beatmungsgeräte, fast keine Massentests, wenige Hygienemasken, wenig Desinfektionsmittel und kaum Massnahmen gibt, um die infizierten Personen in Quarantäne zu bringen, werden es viele leider nicht schaffen.

Die Pandemie hat nicht nur die Komplexität und Zerbrechlichkeit der Struktur und des Inhalts menschlicher Zivilisationen offenbart, sondern auch die Verletzlichkeit des Lebens selbst, in all seiner Anarchie und Vielfalt – von den Körpern, in denen es wohnt, und dem Atem, der es verbreitet, bis hin zur Nahrung, ohne die es verkümmern würde. Diese grundlegende Verletzlichkeit ist das eigentliche Wesen der Menschheit. Und doch wird sie von allen Lebewesen auf diesem Planeten in unterschiedlichem Masse geteilt – einem Planeten, den mächtige Kräfte für die Mehrheit der Lebewesen unwirtlich, wenn nicht sogar unbewohnbar zu machen drohen.

 

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Tatsächlich sind seit Beginn der industriellen Revolution im Westen fast 85 Prozent der Feuchtgebiete trockengelegt worden. Da die Zerstörung von Lebensräumen ungebrochen voranschreitet, sind Bevölkerungsgruppen, deren gesundheitliche Bedingungen prekär sind, täglich neuen Krankheitserregern ausgesetzt.

Speziell in Afrika ist die grösste Sorge die Zerstörung der Biodiversität, die Erschöpfung der Fischbestände, das Schrumpfen der Mangrovensümpfe, die zunehmende Nitratverschmutzung und die Verschlechterung des Zustands der Küstengebiete. Problematisch sind auch der Ausverkauf der Böden, der übermässige Einsatz von Agrochemikalien, der Eingriff des Menschen in die Natur und der Verlust seltener Arten. Vor der Kolonialisierung lebten die Wildtiere, von denen die meisten Krankheitserreger stammen, an Orten mit isolierten Populationen. Das war beispielsweise im Kongobecken der Fall, einer der letzten bewaldeten Ökoregionen der Erde.

Mittlerweile sind die Gemeinschaften, die in diesen Gebieten lebten und von natürlichen Ressourcen abhängig waren, enteignet worden. Mit dem Ausverkauf der Böden durch tyrannische und korrupte Regimes und der Gewährung von Konzessionen an grosse Lebensmittelkonzerne wurden sie aus ihrer Heimat vertrieben. Somit sind sie nicht mehr in der Lage, sich autonom mit Nahrung und Energie zu versorgen, was ihnen über Jahrhunderte ein Leben im Einklang mit der Biosphäre erlaubt hatte. Wie weit wird die Übertragung der Bakterien von Wildtieren auf Menschen erst gehen, wenn tatsächlich alle zwanzig Jahre fast 250 Millionen Hektar Regenwald (die Lungen der Erde) abgeholzt werden?

 

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Covid-19 hat auch besonders deutlich gemacht, dass wir Menschen nicht die einzigen Bewohner*innen der Erde sind und dass wir nicht über anderen Wesen stehen. Wir sind durchzogen von grundlegenden Wechselwirkungen mit Mikroben und Viren und allen möglichen pflanzlichen, mineralischen und organischen Kräften. Genauer gesagt bestehen wir zum Teil aus diesen anderen Wesen. Aber sie zersetzen uns auch und setzen uns wieder zusammen. Sie machen uns und machen uns zunichte, angefangen bei unserem Körper, unserer Umwelt und unserer Art zu leben und zu sterben.

Bevor wir weitergehen, wäre es vielleicht sinnvoll, uns in Erinnerung zu rufen, auf welche Art und Weise Covid-19 tötet. Das Virus dringt durch die Lungenbläschen und in den Blutkreislauf ein und befällt dann Organe und andere Gewebe, angefangen bei denjenigen, die am verletzlichsten sind. Es kommt zu einer Entzündung des Systems. Diejenigen, die schon vor dem Ausbruch des Virus kardiovaskuläre, neurologische oder metabolische Probleme hatten oder an Krankheiten im Zusammenhang mit der Umweltverschmutzung litten, traf es am stärksten. Atemlos und ohne Beatmungsgeräte verliessen uns viele ganz plötzlich. Ihre sterblichen Überreste wurden umgehend begraben oder eingeäschert. Wir mussten uns so schnell wie möglich von ihnen trennen.

Mit der zunehmenden Emission von Treibhausgasen, der Konzentration von Ultrafeinstaub in der Atmosphäre, toxischen Emissionen, unsichtbaren Substanzen, winzigen Körnchen und allen Arten von Feinstaub wird es bald mehr Kohlenmonoxid und Stickstoffdioxid in der Atmosphäre geben als Sauerstoff. Jetzt ist es an der Zeit, unsere Freiheiten zu erweitern durch die Einführung eines allgemeinen Rechts zu Atmen.

 

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Wir müssen hier und jetzt für unser Leben auf der Erde mit anderen (einschliesslich der Viren) und für unser gemeinsames Schicksal einstehen. So lautet die Forderung, die diese krankheitserregenden Zeiten an die Menschheit stellen. Es sind krankheitserregende Zeiten, aber auch Zeiten des Verfalls par excellence, mit zerfallenden Körpern und der Sortierung und Beseitigung aller Arten menschlicher Abfälle – man denke an die «grosse Trennung» und die «grosse Isolation» im Angesicht der erschreckend raschen Ausbreitung des Virus – und damit einhergehend die grossflächige Digitalisierung der Welt.

So sehr wir auch versuchen, uns davon zu befreien: Am Ende bringt uns alles wieder zum Körper zurück. Wir haben versucht, ihn auf andere Medien zu übertragen, ihn in einen Objekt-Körper, einen Maschinen-Körper, einen digitalen Körper, einen ontophanischen Körper zu verwandeln. Und doch kommt er immer wieder als ein schrecklicher, riesiger Zermalmer und als Ansteckungsträger, Pollen-, Sporen- und Schimmelschleuder zu uns zurück.

Zu wissen, dass wir diese Prüfung nicht allein durchstehen müssen oder dass viele von uns ihr nicht entkommen werden, ist ein schwacher Trost. Denn wir haben nie gelernt, mit den Lebenden zu leben, und haben uns nie wirklich Sorgen gemacht über die Schäden, die der Mensch an den Lungen der Erde und an ihrem Körper anrichtet. So haben wir auch nie gelernt, wie man stirbt. Seit den Anfängen der Neuen Welt und, einige Jahrhunderte später, mit dem Erscheinen der «Industrievölker», entschieden wir uns im Wesentlichen dafür, unseren Tod an andere zu delegieren.

 

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Alle Kriege gegen das Leben beginnen damit, dass der Atem geraubt wird. Da Covid-19 das Atmen und die Wiederbelebung von menschlichen Körpern und Geweben behindert, teilt das Virus diese Tendenz.

Worauf beruht die Atmung, wenn nicht auf der Aufnahme von Sauerstoff und dem Ausstossen von Kohlendioxid in einem dynamischen Austausch zwischen Blut und Gewebe? Doch so wie das Leben auf der Erde derzeit abläuft und angesichts dessen, was vom Reichtum des Planeten übrigbleibt: Wie weit sind wir tatsächlich von der Zeit entfernt, in der es mehr Kohlendioxid als Sauerstoff zum Atmen geben wird? Die Menschheit war schon vor diesem Virus vom Ersticken bedroht. Wenn also ein Krieg zu führen ist, muss er sich nicht so sehr gegen ein bestimmtes Virus richten, sondern gegen alles, was den grössten Teil der Menschheit zu einem vorzeitigen Atemstillstand verdammt. Gegen alles, was die Atemwege grundlegend angreift und gegen alles, was während der langen Herrschaft des Kapitalismus Teile der Weltbevölkerung und ganze Ethnien zu einem schweren, keuchenden Atem und einem Leben in Unterdrückung gezwungen hat. Diese Beengung zu überwinden, erfordert es, dass wir uns das Atmen über seinen rein biologischen Aspekt hinaus vorstellen und stattdessen als das begreifen, was uns gemeinsam ist. Das, was sich per Definition jeder Berechnung entzieht. Ich meine das allgemeine Recht zu atmen.

Wenn Covid-19 wirklich der spektakuläre Ausdruck der planetaren Sackgasse ist, in der sich die Menschheit heute befindet, dann geht es um nicht weniger als um die Wiederherstellung einer bewohnbaren Erde, die allen ein erträgliches Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet. Wir müssen die Lungen unserer Welt zurückfordern, um neue Wege zu beschreiten. Menschheit und Biosphäre gehören zusammen. Allein haben sie keine Zukunft. Sind wir in der Lage, unsere Zugehörigkeit zu ein und derselben Spezies wiederzuentdecken und unsere untrennbare Verbindung mit allem, was lebt? Vielleicht ist das die Frage – die allerletzte Frage –, bevor wir unseren letzten Atemzug tun.

 

Coda

Gemeinschaft – oder vielmehr Gemeinsamkeit – beruht nicht allein auf der Möglichkeit, sich zu verabschieden, das heisst, eine einzigartige Begegnung mit anderen zu haben und diese Begegnung immer wieder zu würdigen. Die Gemeinsamkeit beruht auch auf der Möglichkeit, bedingungslos zu teilen und jedes Mal etwas absolut Wesentliches daraus zu ziehen, etwas Unzählbares, Unkalkulierbares, Unbezahlbares.

Um zu überleben, müssen wir allen Lebewesen und allem Lebendigen, einschliesslich der Biosphäre, das Recht aufs Atmen zurückgeben. Als das, was sowohl unbegründet als auch unsere gemeinsame Grundlage ist, kann das allgemeine Recht zu Atmen weder quantifiziert noch vereinnahmt werden. Aus einer universalistischen Perspektive ist es nicht nur das Recht eines jeden Mitglieds der Menschheit, sondern aller Wesen. Es muss daher als Existenzrecht verstanden werden. Folglich kann es nicht beschlagnahmt werden und es entzieht sich jeglicher Souveränität, da es selbst das Souveränitätsprinzip symbolisiert. Darüber hinaus ist es ein ursprüngliches Recht auf Leben auf der Erde, ein Recht, das der universalen Gemeinschaft menschlicher und anderer Erdbewohner*innen gehört.

Talking on Water – diesmal online

Seit zwei Jahren laden wir jeweils am Sonntagnachmittag Denker*innen aus dem globalen Süden auf unsere grösste Bühne, die Seebühne, ein. Die Seebühne gibt es dieses Jahr genauso wenig wie alle anderen Spielorte auf der Landiwiese, dennoch möchten wir dem postkolonialen Diskurs eine grosse Plattform geben. An den beiden ersten Wochenenden des Festivals haben wir zwei wichtige politische Stimmen aus Südafrika und Brasilien eingeladen, in einem international zugänglichen Webinar ihre Thesen darzulegen. Am 16. August hält Achille Mbembe einen Vortrag zum Thema «Sharing the Planet: For an Ethics of Repair and Care». Am 22. August spricht die brasilianische Künstlerin Zahy Guajajara anhand von Ausschnitten ihres Videoprojektes «Ein Brief zur Verteidigung der Wächter*innen des Waldes» über die brennenden Wälder im Amazonas. Sie können entweder über Zoom dabei sein und im Chat Fragen stellen oder den Vorträgen via Live-Stream folgen (Zugang über diese Seite).

Noch mehr Diskurs im Programm

An vier Abenden diskutieren Künstler*innen, Aktivist*innen, Wissenschafter*innen und Vertreter*innen von NGOs am «Stammtisch» mit dem Publikum Fragen wie: Welchen Blickwinkel haben Künstler*innen of Colour in der Schweiz auf die Kunstinstitutionen? Oder welche bestehenden Verhältnisse hat die Corona-Krise sichtbar gemacht oder gar gestärkt? Am 25. August findet ausgehend von Dorine Mokha & Elia Redigers «Herkules von Lubumbashi» eine Diskussion zum Thema Rohstoffabbau auf Zoom statt. Und vom 27. bis 29. August besprechen Kunstschaffende, Kurator*innen, Journalist*innen und weitere Expert*innen im Rahmen des Zoom-Webinars «How To Be Together», was die Pandemie für die internationale Performing-Arts-Szene bedeutet.

Achille Mbembe

Achille Mbembe ist einer der führenden Denker Afrikas. 1957 in Kamerun geboren, lehrt der Historiker und Politikwissenschafter heute in Johannesburg in Südafrika. Seine «Kritik der schwarzen Vernunft» (Suhrkamp 2014) ist ein zentrales Werk der  postkolonialen  Theorie, im Herbst erscheint sein neues Essay «Brutalisme» (Édition La Découverte). Zusammen mit dem senegalesischen Ökonomen Felwine Sarr – er war 2018 in der Vortragsreihe «Talking on Water» zu hören – lädt Achille Mbembe regelmässig Theoretiker*innen zu den «Ateliers de la Pensée» nach Dakar.