Wer ist «Wir» und wer die «Anderen»?
Essay von Anna Froelicher
Was besingt eine Nationalhymne, wer wird dabei eigentlich angesprochen – und wer nicht? Mit «Please Stand» erforschen Samara Hersch und Lara Thoms die Mythen, die mit Nationen und ihren Liedern einhergehen und laden dazu ein, nach Möglichkeiten für neue und alternative Geschichten zu suchen. Autorin Anna Froelicher hat sich auf ihr Gedankenexperiment eingelassen. Ergebnis ist ein persönliches, assoziatives Essay: Was, wenn wir unseren eigenen Blick umdrehen, was sagen Landkarten über Gebiete aus und was bedeuten nationale Erzählungen, Lieder und Objekte für Menschen und Generationen, die offiziell (noch) keine eigene Stimme haben?
Vor kurzem hatte ich wieder einmal das Privileg der Vogelperspektive. Eine dieser erkenntnisreichen Sichtachsen darauf, was unter dir liegt, wo du herkommst, wo du hingehst und wie das alles zusammenhängt. Ich sass im Flugzeug. Nach dem Start hatte ich mir direkt einen Platzwechsel an einen Fensterplatz organisiert. Ich wollte alles sehen. Jedes einzelne Haus über das wir anfangs flogen, immer kleiner werdend, bis es sich in einen schwarzen Punkt auf der Erdoberfläche verwandelte. Jeden Berg und jeden Fluss, jeden Wald, jede Brachfläche. Ich wollte die Strassen sehen, wie sie vermeintlich die Landschaft trennen, obwohl sie doch eigentlich selbst ein Teil der Landschaft sind. Wollte das Meer sehen, wie es sich über den winzig kleinen Streifen Strand mit dem Festland verband. Wo ich hinschaute waren Felder, Dörfer, Anordnungen, Strukturierungen. Alles war Infrastruktur, von Mensch und Maschine gestaltete Oberfläche. Die Zeit des Anthropozän eben, wie die Jetztzeit seit einigen Jahrzehnten auf Deutsch genannt wird.
Die Landschaft, die wir überflogen, veränderte sich – mal sah die Oberfläche steinig und karg aus, mal grün und saftig – aber nie war die Landschaft zu Ende. Von hier oben gab es nur Schattierungen, Farbverläufe und Wiederholungen. Ich wollte auf meinem Handy auf einer Karte nachschauen, wo wir uns gerade befanden, über welche Länder wir flogen und wessen Territorien auch in der Vertikalen bis zu uns hoch reichten. Doch so weit oben gab es keinen Empfang für mobile Daten. Ich musste in meinem Kartengedächtnis grübeln, mich an die markanten Topographien erinnern und so versuchen auszumachen, wo sich welche Länder voneinander trennten. Aber gar nichts funktionierte, ich konnte keine Länder erkennen. Die Schweiz überlagerte sich mit Italien und Italien lief übers Meer in Tunesien über – ich suchte nach Territorien, gespeist aus meiner bildlichen Erinnerung. Aber die Existenz dieser fiktiven Gebiete hinterliess keine Spur auf der sichtbaren Erdoberfläche.
«Gehörst du zu denjenigen Personen, die im Flugzeug klatschen, wenn es landet?» lautet eine Frage auf der Dating App Ok Cupid. «Bist du eine von den Personen, die aufsteht, wenn deine Nationalhymne gesungen wird?»
Ich sitze an meiner Schreibtischplatte im Keller, am kühlsten Ort des Hauses. Es ist heiss draussen, jedenfalls für mitteleuropäische Verhältnisse, und ich versuche mich an einem Text über Samara Herschs und Lara Thoms neue Theaterarbeit «Please Stand». Mit diesem Projekt widmen sich die australischen Künstlerinnen dem, was aus Grenzziehungen erfolgt: Nationen. Zusammen mit drei Jugendlichen aus Melbourne und der iranischen Lyrikerin Negar Rezvani gehen sie der Mythenbildung um nationale Identität und Patriotismus nach. Ein in diesem Zusammenhang von den Künstlerinnen erwähntes Zitat bleibt mir besonders hängen. Es ist vom vietnamesisch-US-amerikanischen Schriftsteller Ocean Vuong: «The best thing about National Anthems is you are already standing, ready to run.» Oder auf Deutsch: «Das Beste an Nationalhymnen ist, dass du bereits stehst um jederzeit loszulaufen.» In mir manifestiert sich der Gedanke, dass es nur eine einzige Bewegung ist, die dich zu einer Patriotin macht. Genauso wie das Weglaufen nur eine einzige Bewegung ist. Ein Verweigerungsakt demgegenüber, was mächtig ist und darüber entscheidet, ob du dazu gehörst oder nicht.
Die zwei letzten Sätze der Schweizer Nationalhymne auf tunesisches Arabisch lauten: «allah fi alwatan alnabil, allah alrabu fi alwatan alnabili.» Gott im hehren Vaterland, Gott, den Herrn, im hehren Vaterland.
Die neunjährige Harper Neilson hat sich dem Verweigerungsakt angenommen und ist beim Singen der australischen Nationalhymne an einer Schulfeier nicht mit aufgestanden, sondern einfach sitzen geblieben. Das war 2018, etwas mehr als Hundert Jahre nachdem sich das heutige Australien 1901 zum Commonwealth of Australia zusammen schloss. Harper Neilson wollte mit ihrem Sitzenbleiben auf die Ungerechtigkeit und Gewalt der Nationenbildung aufmerksam machen. Denn der Text der Nationalhymne, so Neilson, verschleiere durch die Behauptung, dass Australien jung und frei sei, dass bereits seit über 50’000 Jahren Menschen diesen Kontinent bewohnt und bewirtschaftet haben. Für ihr Sitzenbleiben wurde die Schülerin mehrfach öffentlich angefeindet und beschimpft. Thoms und Hersch nahmen Harper Neilsons simple, aber wirkungsvolle Nicht-Bewegung zum Ausgangspunkt ihres Stücks. Bereits in der vorangehenden Performance «We All Know What’s Happening» (2019) über die Geflüchtetenlager auf der Insel Nauru, die von der australischen Regierung finanziert werden, beschäftigte sie die Auswirkung von nationalen Grenzziehungen auf Identität und Körper. In ihren Stücken treten oftmals junge Akteur*innen in den Vordergrund, deren Perspektive nur selten Gehör findet. Was bedeuten nationale Erzählungen, Lieder und Objekte für die Generation, die auf nationaler Ebene (noch) keine eigene Stimme hat?
Ich greife zu meinem Handy, diesmal mit Internet. Der deutschsprachige Wikipedia-Artikel über das heutige Australien führt unter dem Kapitel «Geschichte» folgende Titel auf: Vor Ankunft der Europäer – Erste Sichtungen durch Europäer – Kolonisation und weitere Erkundung – Gründung neuer Kolonien – Weg zur Nation. Dass die 50’000-jährige Geschichte der menschlichen Besiedlung des Kontinents unter dem Punkt «Vor Ankunft der Europäer» zusammengefasst wird, sagt einiges darüber aus, wie wirkmächtig die eurozentrische Perspektive auf diesen Erdteil heute noch ist. Die Geschichte der «jungen und freien» australischen Nation ist eine der Kolonialisierung durch die britische Herrschaft und ihre Sträflinge. Aus Sicht der Indigenen Bevölkerung aber ist es eine Geschichte des Verlustes, der Gewalt und der Unterdrückung sowie eine Geschichte der Nicht-Partizipation, des Protestes und des Widerstands. Eine jüngere Gegenwart, die nur einen Bruchteil ihrer eigenen Historie besetzt.
Am 26. Mai 2022 jährte sich die nationale Gedenkfeier zur Erinnerung an die Misshandlungen an den Indigenen Völkern Australiens zum 24-igsten Mal. Der dafür eingerichtete Tag heisst: «National Sorry Day».
Ich bin in der Bibliothek. Ein kirchlicher Ort, an dem ich schon ewig nicht mehr war und den ich über die Pandemie hinweg fast vergessen hätte. Es ist still und der Raum klingt so, als hätten viele Menschen sehr lange an seiner Atmosphäre herum getüftelt, fast wie im Flugzeug, fällt mir ein. Ich will in einem Buch blättern und mir eine Karte anschauen, die ich mal auf Instagram gesehen hatte. Es braucht etwas Geduld, bis ich fündig werde. Es ist eine viereckige Kartographie der Welt. In der rechten oberen Ecke eine grosse gelbe Fläche umgeben von blau, das heutige Australien. Etwas weiter unten am rechten Rand Indonesien, Malaysia, die Philippinen, China und Russland, eingefasst vom unteren Rand und bis in die Mitte der Karte reichend. In der Mitte zuoberst Südafrika, etwas weiter unten rechts davon abgetrennt Madagaskar und ganz links in der oberen Bildhälfte Südamerika mit Argentinien und Chile nebeneinander liegend, lang gezogen zu einer Spitze. An der unteren Bildkante links, Kanada und Alaska. Die Karte heisst: «The world turned upside down» und stammt vom Verbund Oxford Cartographers. Ich suche mit dem Zeigefinger nach den Orten, die ich schon besucht habe und fahre entlang der verschiedenfarbigen Flecken. Wieder ist es eine Bewegung, die alles auf den Kopf stellt. Eine Bewegung des Blickes auf die Welt, der Weg von einem dominanten Standort zu einem anderen. Vor mir liegt ein papierener, bunter Verweigerungsakt gegenüber der Tradition, die Welt von Europa aus zu betrachten. Nicht die Welt ist auf den Kopf gestellt, denke ich – das Universum kennt keine Richtung, kein unten und oben – sondern mein Blick auf sie ist verkehrt. Ich stehe auf und verlasse die Bibliothek.
«Please Stand» von Samara Hersch und Lara Thoms feiert am 18. August 2022 am Zürcher Theater Spektakel Premiere. Weitere Informationen und Tickets.
Credits
Text: Anna Froelicher
Foto: Tonic Raymond