Zum Essay
Welche Möglichkeiten bietet Kunst, unsere komplizierte Gegenwart nicht nur besser zu verstehen, sondern auch zu bewältigen? Die Theater- und Kulturwissenschaftlerin Azadeh Sharifi plädiert dafür, die Ko-Präsenz, also die gemeinsame Anwesenheit des Publikums mit den Künstler*innen während einer Vorstellung, nicht als passives Zuschauen zu begreifen, sondern die Teilhabe an einem künstlerischen Ereignis dafür zu nutzen, die eigene Involviertheit in gesellschaftlichen Phänomenen und Machtstrukturen zu hinterfragen und Mit-Verantwortung dafür zu übernehmen.
Zur Autorin
Azadeh Sharifi ist Gastprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin. Zuvor war sie Visiting Assistant Professor am Department of Germanic Languages & Literatures der University of Toronto und Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind (post)koloniale und (post)migrantische Theatergeschichte, zeitgenössische Performance-Kunst sowie intersektionale, dekoloniale und aktivistische Praktiken im Theater. Sie arbeitet zudem als Kuratorin und Autorin.
Die Ver-Antwortung der Ko-Präsenz
«Speech was taken away from us for too long. That’s why this intimacy that I’m exposing is an artistic gesture that’s both personal and political.»
Rébecca Chaillon, Interview für das Festival TransAmériques
In einem Interview für das Festival Trans-Amériques beschreibt die afro-französische Schauspielerin und Regisseurin Rébecca Chaillon ihre künstlerische Arbeit als eine von postkolonialen, dekolonialen und (Schwarzen) feministischen Denker*innen geformte Praxis:
«Inspiriert von Aimé Césaire, Audre Lorde und anderen Denker*innen, möchte ich, dass Menschen der poetischen Sprache mit einem afro-fantastischen oder afro-futuristischen Anklang beiwohnen. Es ist eine ziemlich lange Geschichte, die wir dem Publikum präsentieren wollen. Aber wenn unsere Geschichte erzählt ist, wovon können wir dann träumen? Wie können wir uns transformieren und uns in die Zukunft versetzen? Die auf der Bühne gezeigten Bilder sind geformte plastische Metaphern aus der Popkultur, die uns konstruieren. Aber wir wollen über diese hinausgehen. Dies ist eine Show, die Schwarze Frauen ermächtigt ...»
Festival TransAmériques 2024
Rébecca Chaillon bezieht die Erfahrungen der persönlichen und politisch-historischen Enthumanisierung und Marginalisierung, auch in institutionalisierten Kunstkontexten, in ihre Arbeit für die Bühne mit ein. Ihre künstlerische Praxis positioniert sich als widerständige Narrative, die sich nicht nur der Dekonstruktion kolonial-rassistischer Bilder und Zuschreibungen widmen, sondern auch Träume und Utopien vornehmlich für Schwarze Frauen erschaffen. Diese sehr klare künstlerische Positionierung steht, wie bei vielen anderen eingeladenen rassifizierten und marginalisierten Künstler*innen, Theatergruppen, aber auch Subjekten und Themen, die auf den Bühnen des Zürcher Theater Spektakels verhandelt werden, im Widerspruch mit der Institution selbst und ihren Zuschauer*innen. Das Zürcher Theater Spektakel versteht sich seit jeher als ein internationales Festival, das insbesondere einen Schwerpunkt auf Künstler*innen und Theatergruppen des Globalen Südens legt. Und trotzdem ist es eine Institution, deren Strukturen genauso von Kolonialität geformt sind wie andere (west)europäische Festivals. Auch die Schweiz, die zwar historisch keine Kolonien besessen hat, profitiert von den Formen und Folgen des Kolonialismus, wie der Schweizer Sozialanthropologe Rohit Jain herausgearbeitet hat.
Die aktuelle Ausgabe des Zürcher Theater Spektakels thematisiert, wie Kunst dazu beitragen kann, in einer Welt voller Konflikte die Komplexitäten auzuhalten, im Wissen um existierende Differenzen und Ungleichheiten. Ich möchte die Frage anders formulieren: Welche «Ver-Antwortung» liegt in der leiblichen Ko-Präsenz zwischen Künstler*innen, Kulturschaffenden und Zuschauer*innen, die Komplexität künstlerischer Verhandlungen in ihrer politischen und persönlichen Dimension nicht nur auszuhalten, sondern auch eine Haltung zu entwickeln? Denn, was immer die Performer*innen und Zuschauer*innen tun, hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der jeweils anderen. Es wird programmiert, es wird performt und es wird zugeschaut. Nur in dieser Verbundenheit, der Ko-Präsenz, lässt sich auch die Verwobenheit der Geschichten, die des Festivals, seiner Künstler*innen und der Zuschauenden verstehen. Und nur in dieser Verwobenheit lässt sich auch eine Ver-Antwortung einordnen: Die Künstler*innen antworten mit ihrer Kunst auf gesellschaftliche, politische oder historische Begebenheiten – und darin nehmen auch die Zuschauenden eine Ver-Antwortung ein.
Ich möchte in diesem Essay dafür argumentieren, dass wir uns der «Non-Performativität», die beim Beiwohnen künstlerischer Praktiken von marginalisierten und kolonisierten Künstler*innen und ihren Kontexten in institutionalisierten Rahmen entstehen könnte, widersetzen. Non-Performativität, wie sie von der feministischen Wissenschaftlerin und Autorin Sara Ahmed beschrieben wird, bedeutet, dass sich Aussagen und Handlungen gerade durch das Nicht-Vollziehen der behaupteten Handlung konstituieren. «They ‘work’ precisely by not bringing about the effects that they name.» Während beispielsweise immer wieder eine antirassistische und antikoloniale Haltung in den Kulturinstitutionen versichert wird, sind kolonial-rassistische Sprache, Bilder und Metaphern nicht nur auf den Bühnen, sondern auch hinter den Bühnen in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden und werden weiterhin in Kauf genommen.
«Non-Performativität» ist der Moment, in dem der Kolonialismus in der Kunst und auf der Bühne kritisch hinterfragt wird, aber in den institutionalisierten Strukturen immer noch seine Fortsetzung findet. Es wird behauptet, dass das Kunstwerk/die Produktion/die Performance etwas mit den Institutionen und Zuschauer*innen macht, aber die kritische Auseinandersetzung findet nur auf der Bühne statt.
Eine Ver-Antwortung zu übernehmen, hiesse, durch eine kritische Positionierung des eigenen situierten Wissens nicht nur den künstlerischen Prozessen beizuwohnen, sondern dieses aktiv auch als Teil der Mitgestaltung in der Ko-Präsenz einzusetzen. Das Konzept des «situierten Wissens» geht auf die Philosophin Donna Haraway zurück, in welchem jede Wissensform als immer schon historisch und kulturell spezifisch eingeordnet wird. Das «situierte Wissen» meint eine philosophische Auffassung, in der Subjekte nicht von ihrer Umgebung getrennt werden können, sondern stets damit verbunden und darin verkörpert sind.
An vielen Performances und Produktionen sind rassifizierte, marginalisierte und teilweise exotisierte Künstler*innen und Communities beteiligt, die in ihrer künstlerischen Praxis gegen Gewalt und für indigene, dekoloniale und ermächtigende Erzählungen arbeiten. Dabei werden traumatische und gewaltvolle Erfahrungen verarbeitet, um auch Raum für Träume und Utopien zu öffnen.
Wenn beispielsweise Zora Snake darauf verweist, dass seine Performances auf der «Idee des Widerstands gegen das Schweigen» beruhen, beidenen es auch darum geht, das «Schweigen unserer Vorfahren, die stumm blieben, nicht aus Angst, zu sprechen, sondern aus Angst, zu sterben», zu thematisieren, dann gibt es in der Performance auch die Anrufung zur Ver-Antwortung für eine koloniale Vergangenheit und deren Spuren in der Gegenwart, nicht nur in der fernen Raubkunst der Museen, sondern auch in der Art und Weise, wie wir uns zu Schwarzen Körpern und Subjekten in einem weiterhin kolonial-rassistischen Raum verhalten.
Die Philosophin Donna Haraway schlägt vor, sich nicht einer simplen Lösung zu widmen, sondern «staying with the trouble»: «Unruhig zu bleiben erfordert aber gerade nicht eine Beziehung zu jenen Zeiten, die wir Zukunft nennen. Vielmehr erfordert eszu lernen, wirklich gegenwärtig zu sein.
Gegenwärtigkeit meint hier nicht einen flüchtigen Punkt zwischen schrecklichen oder paradiesischen Vergangenheiten und apokalyptischen oder erlösenden Zukünften, sondern die Verflechtung von uns sterblichen Krittern mit unzähligen unfertigen Konfigurationen aus Orten, Zeiten, Materien, Bedeutungen.»
Donna Haraway, Unruhig bleiben, 2016
Wie es beispielsweise Rébecca Chaillon andeutet, lassen sich künstlerische Prozesse nicht von der eigenen Erfahrung und gesellschaftlichen Position trennen. «Staying with the trouble», als eine Haltung für die Ko-Präsenz und darüber hinaus, kann bedeuten, diese in dem eigenen situierten Wissen zu reflektieren und sich der Aufgabe und Ver-Antwortung im Prozess der künstlerischen Aushandlung als einem wirklichkeitskonstituierenden Moment zu stellen. Nicht nur zu-schauen, sondern das Mit-Wirken als eine politische und persönliche Haltung umsetzen. Nicht nur zu-schauen, sondern auch eine aktive Rolle und Aufgabe darin ergreifen.
Darin liegt die Stärke der Kunst und künstlerischer Prozesse, nicht nur Differenzen auszuhalten, sondern auch eine Haltung für Herrschafts- und Machtverhältnisse und unsere Verstrickungen darin zu entwickeln.