DER ÖKOLOGISCHE WIDERSPRUCH DES KAPITALISMUS

Viele künstlerische Arbeiten dieser Ausgabe und generell dieses Festivals beschäftigen sich mit ökologischen Fragen. Die Auseinandersetzungen internationaler Künstler*innen mit Umweltthemen sind dabei gleichzeitig Schlaglichter auf Gesellschaften, auf komplexe sozialökonomische Systeme mit einer spezifischen, oft kolonialen Geschichte. Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser beschäftigt sich schon lange mit den Bedingtheiten und Herausforderungen neoliberaler Gesell- schaften. In diesem Essay beschreibt sie, wie diese ihre eigenen Grundlagen untergraben, und plädiert für eine neue, umweltgerechte und soziale Wirtschaftsweise, die verschiedene Perspektiven zusammenbringt und ökonomisches mit ökologischem Denken verbindet.

 

Umweltpolitik ist aktuell ein weitläufiges und verworrenes Feld: Es umfasst viele Perspektiven, die sich unterscheiden und auch im Widerspruch zueinander stehen. Dazu gehören junge Aktivist*innen wie Greta Thunberg, die sofortige radikale Maßnahmen gegen CO2-Emissionen fordern; Bewegungen für Degrowth (Postwachstum), die konsumorientierte Lebensstile verantwortlich machen und eine Transformation unserer Lebensweisen vorschlagen; indigene Gemeinschaften, die ihre Lebensräume gegen den Raubbau durch Konzerne verteidigen und alternative, nicht auf Profit ausgerichtete Beziehungen zur Natur vertreten; Feminist*innen, die sich für Lebensweisen einsetzen, die Reproduktion ermöglichen und mitdenken; und Black-Lives-Aktivist*innen, die auf die ungleich verteilten Auswirkungen des Klimawandels aufmerksam machen. Das Feld umfasst auch Sozialdemokrat*innen, die sich für einen Green New Deal einsetzen; rechtspopulistische Strömungen, die «ihre» Grünflächen und natürlichen Ressourcen schützen wollen, indem sie «andere» ausschließen; sowie Unternehmens- und Finanzinteressen, die beispielsweise in CO2-Zertifikate oder erneuerbare Energien spekulieren und darauf abzielen, das globale Klimaregime marktorientiert und kapitalfreundlich zu halten. Schließlich umfasst das Feld Umweltpolitik auch Leugner\*innen des Klimawandels.

Eine mögliche Ordnung in diesem unübersichtlichen und widersprüchlichen Feld wäre die Gegenüberstellung eines «Umweltschutzes der Reichen» und eines «Umweltschutzes der Armen». Letzterer Ausdruck wurde von Joan Martinez-Alier geprägt, um die Kämpfe armer Gemeinschaften (hauptsächlich, aber nicht nur, im Globalen Süden) gegen neo-imperialistische Unternehmensangriffe auf ihre natürlichen Lebensräume zu beschreiben. Dabei geht es nicht um die Verteidigung einer abstrakten «Natur», sondern um Lebensräume, die untrennbar mit ihren Lebensweisen, Einkommensquellen, Gemeinschaftsformen, ihrer sozialen Reproduktion und politischen Identität verbunden sind. Mit anderen Worten: Der Umweltschutz der Armen ist umfassend und vereint eine ganze Reihe existenzieller Anliegen. Er trennt Umweltschäden an der (nichtmenschlichen) Natur nicht von jenen an menschlichen Gemeinschaften, sondern begreift beide als tief miteinander verflochten.

Im Gegensatz dazu verstehe ich unter dem Umweltschutz der Reichen eine «Naturverteidigung», unbelastet von anderen, «nebensächlichen» Anliegen wie sozialer Gerechtigkeit, Existenzsicherung, Demokratie und sozialer Reproduktion menschlicher Gemeinschaften. Diese Anliegen erscheinen jedoch nur aus der Perspektive einer kleinen Elite als «nebensächlich» – einer Elite, deren Lebensgrundlagen, politischen Rechte und kollektives Überleben NICHT existenziell bedroht sind.

Dies setzt eine Trennung der «Wirtschaft» von ihren nichtökonomischen Voraussetzungen voraus – einschließlich der Natur. Unsere soziale Struktur, die sich am treffendsten als «kapitalistische Gesellschaft» beschreiben lässt, etabliert ein widersprüchliches Verhältnis zwischen diesen Bereichen. Einerseits ist die Akkumulation von Kapital auf die Natur angewiesen – sowohl als «Quelle», die Material und Energie für die Warenproduktion liefert, als auch als «Senke», die die Abfälle dieser Produktion aufnimmt. Andererseits motiviert die kapitalistische Gesellschaft Eigentümer\*innen, die auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind, dazu, sich «die Gaben der Natur» so billig wie möglich anzueignen, ohne dafür verantwortlich gemacht zu werden, das Entnommene zu regenerieren oder angerichtete Schäden zu beheben. Ausgehend von der falschen Annahme, dass sich die Natur autonom und unendlich regenerieren könne, etabliert das Kapital eine extraktive Beziehung zur Natur: Es verbraucht immer mehr biophysische Ressourcen, um immer größere Profite anzuhäufen. Was sich ebenfalls anhäuft – und das nicht zufällig –, ist ein immer größer werdender Berg an ökologischer Zerstörung. Es gibt im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft einen ökologischen Widerspruch. Begrifflich bilden diese beiden Kategorien – der Umweltschutz der Armen und der Umweltschutz der Reichen – ein Gegensatzpaar; sie stehen in grundsätzlicher Opposition zueinander. «Reich» und «arm» sind populistische Begriffe, die stellvertretend für Klassenkategorien verwendet werden. Wie jede populistische Sprache sind auch diese Begriffe vereinfachend und analytisch unpräzise – doch gerade deshalb besitzen sie eine große Mobilisierungskraft, da sie unsere Aufmerksamkeit auf die sozialen Strukturen lenkt, in denen die politische Ökologie stattfindet. Im Gegensatz zu denen, die von

«anthropogenem Klimawandel» sprechen, ist der Hauptverursacher der globalen Erwärmung nicht die Menschheit im Allgemeinen, sondern eine kleine Klasse, die das System von Produktion und Transport konstruiert hat und daran verdient – ein System, das unaufhörlich Treibhausgase in die Atmosphäre schleudert. Sie tut dies nicht zufällig oder aufgrund einer außergewöhnlichen Katastrophe. Die Anreize, die Mittel, Motive und sogar die Gelegenheit, den Planeten zu zerstören, entspringen dem System selbst. Die Begriffe «reich» und «arm» verweisen zu Recht auf eine zutiefst ungerechte Gesellschaftsordnung, in der eine relativ kleine Zahl von Menschen bequem und lange lebt, während die überwältigende Mehrheit leidet. Wir können den Planeten nicht retten, ohne einige zentrale Merkmale unserer sozialen Ordnung außer Kraft zu setzen. Daher meine erste Schlussfolgerung: Umweltpolitik muss antikapitalistisch sein.

Aber das ist noch nicht alles. Der ökologische Widerspruch des Kapitalismus ist verflochten mit weiteren, ebenfalls strukturellen und tief verwurzelten Widersprüchen. Die kapitalistische Gesellschaft misst der Care-Arbeit wenig bis keinen (monetisierten) Wert bei, behandelt sie als kostenlos und unendlich verfügbar und übernimmt keinerlei Verantwortung dafür, sie zu erhalten. Die kapitalistische Gesellschaft ist daher von Natur aus dazu veranlagt, die soziale Reproduktion zu destabilisieren – genauso wie sie, nicht zufällig, dazu neigt, natürliche Ökosysteme zu destabilisieren. Tatsächlich lassen sich die beiden Prozesse kaum voneinander trennen. Wenn das Kapital menschliche Lebensräume unterstützende Ökosysteme untergräbt, gefährdet es gleichzeitig die Care-Arbeit sowie die Lebensgrundlagen und sozialen Beziehungen, die diese ermöglichen. Und wenn Menschen sich dagegen zur Wehr setzen, dann geschieht das oft in Verteidigung des gesamten ökosozialen Zusammenhangs – als wollten sie sich der Autorität der kapitalistischen Spaltungen widersetzen. Krisen der Natur und Krisen der Care sind miteinander verflochten.

Dasselbe gilt für das Verhältnis des Kapitals zur Arbeit – in all ihren Formen: Natur und Arbeit sind eng miteinander verbunden. Ich meine nicht «nur», dass menschliche Arbeitskräfte selbst biosoziale Wesen sind – und somit Teil der Natur –, obwohl wir das natürlich sind. Ich meine auch, dass die Natur eine Voraussetzung für die Arbeit ist, da sie die materielle Grundlage liefert, welche die Arbeit verwandelt: die «Rohstoffe», die «produktiven» und «reproduktiven Inputs» – einschließlich Land, Werkzeuge, Maschinen, Menschen und andere Tiere. Darüber hinaus liefert die Natur die Energie, die die Arbeit antreibt, einschließlich der Nahrungsmittel, die den menschlichen und tierischen Muskel versorgen, sowie der fossilen und erneuerbaren Energiequellen, die Maschinen antreiben. Ebenso wichtig: Arbeit ist angewiesen auf grundlegende Umweltbedingungen – auf atembare Luft, trinkbares Wasser, fruchtbare Böden, stabile Meeresspiegel, ein bewohnbares Klima. Schließlich ist die Natur der Ort und die Bühne der Gesellschaften und Gemeinschaften, die von der Arbeit leben und sie organisieren. Ohne Natur gibt es keine Gesellschaft, folglich keine soziale Arbeit. Natur und Arbeit bilden also ein Paar.

Doch die Arbeiter\*innenbewegungen scheinen weitgehend separat von den grünen Bewegungen zu agieren, die für sich beanspruchen, «die Natur» zu vertreten. Voneinander abgespalten, sind beide Bewegungen geschwächt, denn ihre Interessen erscheinen als gegensätzlich. In der Nullsummen-Logik des Kapitalismus hängen die Interessen der Arbeit von «Jobs» ab – und diese wiederum von profitablen Investitionsmöglichkeiten, die davon abhängen, dass das Kapital die Freiheit hat, sich ungehindert an der Natur zu bedienen, ohne irgendeine Verpflichtung zur Wiederherstellung oder Regeneration. In diesem Szenario erscheinen die Interessen der Arbeit den Interessen der Natur direkt entgegengesetzt. Die Wahrheit ist: Jede Bewegung, die sich für die Belange der Arbeit einsetzt, muss grün sein sowie dem Schutz und der Reparatur der Natur verpflichtet. Umgekehrt muss jede Bewegung, die sich für den Schutz und die Reparatur der Natur einsetzt, die Belange der Arbeit unterstützen. Nur wenn jede Seite ihre «andere Hälfte» wiederentdeckt und anerkennt, kann der vom Kapital eingeführte Riss zwischen Natur und Arbeit geheilt werden. Daher meine zweite Schlussfolgerung: Umweltpolitik muss nicht nur antikapitalistisch, sondern auch trans-umweltlich sein, also multidimensional über die unmittelbar ökologischen Fragen hinausgehen.

Die Geschichte des Kapitalismus bestätigt, dass ökologische Fragen nicht von Fragen der politischen Macht, der Geschlechter- und Rassenunterdrückung, imperialer Dominanz sowie der Enteignung und dem Völkermord an Indigenen getrennt werden können, ebenso wenig wie von Fragen der Lebensgrundlagen, der Gemeinschaft und der sozialen Reproduktion. Sie zeigt auch, dass Kämpfe um die Natur fast immer eng verwoben waren mit Kämpfen um Arbeit, Care, Rasse und politische Macht. «Die Umwelt» kann letztlich nicht adäquat geschützt werden, ohne auch den institutionellen Rahmen und die strukturellen Dynamiken der kapitalistischen Gesellschaft infrage zu stellen.

Was uns zur brennenden Frage führt: Werden wir unsere Chance, den Planeten zu retten, verspielen, weil wir es versäumen, eine Umweltpolitik zu entwickeln, die antikapitalistisch und multidimensional ist? Alles hängt davon ab, ob es uns gelingt, eine klare und überzeugende Perspektive zu entwickeln, die unsere gesamten gegenwärtigen Krisen – die ökologischen ebenso wie die anderen – auf ein und dasselbe Gesellschaftssystem zurückführt – und somit zu einer gemeinsamen Lösung gelangt.

Nancy Fraser ist Professorin für Philosophie und Politik  an der New School for Social Research in New York. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit Fragen von sozialer Gerechtigkeit, Umverteilung und Anerkennung auseinander und gilt in diesem Themenfeld als eine der wichtigsten US-amerikanischen Theoretiker*innen. Zuletzt erschien auf Deutsch ihr Buch «Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt», Suhrkamp, 2023.