«ES GEHT DARUM, DEN KREISLAUF ZU DURCHBRECHEN »

«Ich frage nicht, ob du hundert Jahre alt werden willst – ich frage, ob du dir überhaupt vorstellen kannst, so lange zu leben.»
Mit dieser scheinbar einfachen, aber tiefgründigen Frage eröffnet die brasilianische Regisseurin und Performerin Jéssica Teixeira ihr Solo «Monga». Für die Inszenierung wurde sie 2024 mit Brasiliens bedeutendstem Theaterpreis für die Beste Regie ausgezeichnet. «Monga» ist eine kraftvolle Auseinandersetzung mit Körperbildern, zugeschriebenen Identitäten, Erinnerung und Sichtbarkeit.
Angeregt durch die tragische Geschichte von Julia Pastrana – einer indigenen mexikanischen Künstlerin, die im 19. Jahrhundert in europäischen Freakshows zur Schau gestellt wurde – schafft Teixeira eine radikal zeitgenössische und zutiefst persönliche Performance. Darin setzt sie sich mit kolonialen Verstrickungen ebenso auseinander wie mit aktuellen Formen von Diskriminierung, Ableismus, Fetischisierung und künstlerischer Selbstermächtigung.
Im Gespräch mit der Kuratorin Lea Loeb spricht Jéssica Teixeira über historische und sexualisierte Gewalt, performative Autonomie, die Kraft der Nacktheit auf der Bühne – und darüber, wie Kunst dazu beitragen kann, neue Formen des Zusammenlebens zu imaginieren.

Jéssica, danke, dass du dir heute Zeit nimmst, mit mir über Zoom zu sprechen. Wir haben uns vor etwas mehr als einem Jahr in São Paulo kennengelernt – damals habe ich eine Probenpräsentation deines Stücks «Monga» beim Farofa Festival besucht. Seit der Premiere im September 2024 hat es in Brasilien grossen Erfolg gefeiert. Nun beginnt deine erste Europa-Tournee, und wir freuen uns sehr, «Monga» im August im Rahmen des Zürcher Theater Spektakels zeigen zu dürfen.
In deinem Stück setzt du dich mit dem Leben einer historischen Figur auseinander: Julia Pastrana, einer mexikanischen Künstlerin des 19. Jahrhunderts. Sie wurde mit Hypertrichose geboren – einer genetischen Erkrankung, die übermässiges Haarwachstum verursacht – und wurde aufgrund ihrer körperlichen «Andersartigkeit» gezwungen, in Zirkussen und sogenannten Freakshows aufzutreten – auf Tourneen durch ganz Europa. Ihr Körper wurde ihr Leben lang öffentlich zur Schau gestellt, und sie starb jung. Eine tragische Geschichte.
Was hat dich an dieser Figur interessiert – und wie hat sie die Entstehung von «Monga» beeinflusst?
Danke für das Interview, Lea. Als Kind habe ich oft eine Darbietung gesehen, die «Monga» hiess – ein Akt, bei dem sich eine Frau in einem Käfig in einen Gorilla verwandelte. Es war eine klassische Horrorshow. Sie hat mir grosse Angst gemacht – aber irgendwie hat sie mich auch fasziniert. «Monga» wurde in Zirkussen in ganz Brasilien aufgeführt – ein Klassiker, den alle kannten. Gespielt wurde die Figur meist von einer normschönen Frau.
Erst viele Jahre später erfuhr ich, dass der Zirkusakt, den ich als Kind gesehen hatte, auf der Geschichte von Julia Pastrana basierte. Das hat mich nicht mehr losgelassen. Ich begann, die Figur hinter der Show aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Ich wollte diese alte Horrorshow nicht einfach nachspielen. Was mich vielmehr interessierte, war der psychologische Horror – etwas Unsichtbares, etwas Inneres. Ich wollte den «klassischen Akt» nicht reproduzieren, sondern darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn Körper wie unsere – also Körper, die nicht der Norm entsprechen – zur Schau gestellt werden.
Es geht um etwas Tieferes als nur die reine Nachstellung der Show – sondern um eine Auseinandersetzung mit einem bestimmten Horror, den mein eigener Körper hervorruft. Ich hatte kein Interesse daran, eine klassische Freakshow zu reproduzieren – mich beschäftigte vielmehr der psychologische, unsichtbare Horror. Es geht mir dabei vor allem um die Konfrontation mit den verborgenen Aspekten von Julia Pastranas Geschichte. Zum Beispiel die Frage, wer diese Attraktion konsumiert hat – und aus welchen Motiven. Und auch darum, was diese Geschichte für Menschen wie mich heute bedeutet. Meine Arbeit wird so zu einer Möglichkeit, diesen Horror zu verkörpern – ohne ihn zu wiederholen.
Deutlich wird in Julia Pastranas Geschichte nicht nur die Exotisierung von Körpern, die als «anders» oder nicht normgerecht wahrgenommen werden, sondern auch die koloniale Dimension ihrer Ausbeutung. Als brasilianische Künstlerin – wie fühlt es sich an, dieses Stück heute nach Europa zu bringen?
Als lateinamerikanische Künstlerin empfinde ich es als Ehre, meine Arbeit in Europa präsentieren zu können. Ich habe viel gelernt und hart gearbeitet, um meinen heutigen Platz als international anerkannte Künstlerin einzunehmen – und die Möglichkeit zu haben, meine Arbeit über Landesgrenzen hinaus zu zeigen. Aber gleichzeitig habe ich ambivalente Gefühle. Denn Europa ist der Ort, an dem Julias Körper am meisten Ausbeutung erfahren hat. Hier wurde sie einst zur Schau gestellt – und hier werden Körper wie meiner auch heute noch fetischisiert. Mein Körper und meine Geschichte werden Teil der zeitgenössischen Kunst. Und manchmal frage ich mich: Warum gelten unsere Körper eigentlich immer noch als unterhaltend? Warum werden sie auf diese Weise konsumiert? Ich habe darauf nicht immer eine Antwort. Wahrscheinlich fühle ich mich deshalb gleichzeitig geehrt – und belastet.

In «Monga» sprichst du über die Angst, die viele Menschen empfinden, wenn sie mit Körpern konfrontiert werden, die von der Norm abweichen. Du stellst die Frage, woher diese Angst kommt. Was meinst du – wo liegt ihr Ursprung?
Lange Zeit wurden Körper wie meiner meist schon im Säuglingsalter getötet. Deshalb habe ich mir nie wirklich vorstellen können, alt zu werden. Ärzt*innen und offizielle Stellen sagten mir und meiner Familie damals, ich würde nie studieren, nie arbeiten. Aber heute, mit 32, kann ich mir vorstellen, hundert Jahre alt zu werden – weil ich Künstlerin bin. Und weil die Vorstellungskraft überlebenswichtig ist. Wir alle müssen in der Lage sein, uns eine Zukunft auszumalen. Uns ein Leben in Würde vorzustellen. Unsere Herkunft und unsere Erinnerung wurden lange zum Verstummen gebracht oder ausgelöscht. Meine Angst wurzelt genau darin. Menschen fürchten Körper wie meinen, weil sie uns nicht kennen. Wir kommen in den Geschichtsbüchern nicht vor – und in keinem anderen Narrativ der Menschheit. Unsere Erinnerung ist in unsere Körper eingeschrieben. Unser Trauma. Unsere Vorstellungskraft. Es ist sehr schwer, neue Vorbilder zu schaffen. Wir existieren nicht in der Vergangenheit, aber wir wollen in der Zukunft existieren.
Eine künstlerische Laufbahn mit einem marginalisierten oder behinderten Körper aufzubauen, ist zweifellos alles andere als einfach. In der Schweiz und in ganz Europa sehen sich Künstler*innen mit Behinderungen nach wie vor zahlreichen strukturellen und gesellschaftlichen Hürden gegenüber. Wie ist die Situation diesbezüglich in Brasilien?
In Brasilien hat sich Barrierefreiheit zu einem eigenen Forschungs- und Wissensfeld entwickelt. Es braucht Zeit, Budget und Planung. Aber wir machen echte Fortschritte. Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen mit Behinderungen. In meiner Forschung sehe ich sie als eine Art wechselseitige Beziehung. Es geht nicht nur um Gebärdensprachdolmetschen für gehörlose Zuschauer*innen oder um Audiodeskriptionen für blinde Menschen. Es geht auch darum, uns selbst neu zu erfinden – und unsere Art der Kommunikation neu zu denken.
Ich bin mit dem Lesen von Theatertexten aufgewachsen. Und diese Regieanweisungen – diese detaillierten Beschreibungen – waren eine Form von Zugänglichkeit. Sie halfen mir, mir jede Szene, jede Geste vorzustellen. In diesem Sinne gehörte Zugänglichkeit für mich schon immer zur Sprache des Theaters.
Barrierefreiheit ist für mich ein Akt der Neuerfindung. Es geht nicht einfach darum, «etwas zur Verfügung zu stellen». Es geht darum, unsere Art zu kommunizieren und miteinander zu leben neu zu denken. Wer Barrierefreiheit auf eine reine Geste der Wohltätigkeit reduziert – auf ein simples «Zugänglichmachen» –, verkennt, worum es wirklich geht. Ja, Menschen mit Behinderungen brauchen Barrierefreiheit – aber Menschen ohne Behinderungen ebenso. Wir alle müssen darüber nachdenken, wie wir zusammenleben und miteinander in Beziehung treten.
Barrierefreiheit als Wissensfeld zu betrachten, fordert uns dazu heraus, uns selbst neu zu erfinden. Ein Bild zu beschreiben oder Bewegung in Gebärdensprache zu übersetzen – das sind Akte der Kreativität und der Vorstellungskraft. Es geht nicht darum, etwas für jemand anderen zu tun, sondern mit und durch uns selbst. Deshalb ist das für mich die grösste Herausforderung in meinen Performances: auf der Bühne zu stehen, mich auf eine bestimmte Weise zu bewegen – und plötzlich spiegelt jemand aus dem Publikum genau diese Bewegung. Und dann stellen sich Fragen wie: Wer hat damit angefangen? Wer hat wen geführt? Genau in diesem Moment passiert etwas Magisches. Die Arbeit wird bedeutungsvoll – nicht weil wir etwas «inkludieren», sondern weil wir erweitern, was Sprache überhaupt sein kann.

Du hast kürzlich einen der renommiertesten Theaterpreise Brasiliens erhalten – den Shell-Preis für die beste Regie von «Monga». Herzlichen Glückwunsch! Was bedeutet dir diese Auszeichnung? Und glaubst du, dass solche Anerkennungen dazu beitragen können, nicht-normativen Körpern auf Theaterbühnen mehr Sichtbarkeit zu verschaffen?
Ja, absolut. Ich glaube, dass «Monga» weit über die fünf traditionellen Sinne hinausgeht. Wir sehen und hören nicht nur. Wir sehen mit den Händen. Wir fühlen, wir riechen. Wir nehmen mit dem ganzen Körper wahr. In «Monga» geht es genau um diese anderen Perspektiven – um andere Arten, in der Welt präsent zu sein. Andere Arten, sie mit dem ganzen Wesen, mit dem ganzen Körper zu bewohnen. Das Stück lädt die Zuschauer*innen dazu ein, sich vorzustellen, wie auch sie sich anders bewegen, anders existieren, anders in Beziehung treten könnten. Vor allem aber geht es darum, sich andere Zukünfte vorzustellen – solche mit weniger Gewalt, mit weniger Auslöschung. Und ich spreche dabei nicht nur von brutaler Gewalt, sondern auch von stiller – der subtilen, systematisch verborgenen.
In «Monga» habe ich mich dafür entschieden, wirklich präsent zu sein – und mich so zu zeigen, wie ich es will. Diese Autonomie, diese Selbstermächtigung, sagt viel über meinen Körper aus. Diesen Körper, der so lange nur als abhängig von jemandem oder etwas gesehen wurde – als Last. Sich diese Freiheit und den Raum zu nehmen – in der rohesten, ureigensten Form, die möglich ist – ja, das überrascht wohl. Weil es immer noch selten ist. Weil wir das nicht gewohnt sind. Aber ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändern wird. Und dass «Monga» andere dazu inspiriert, präsent zu sein, sich die Bühne zu nehmen – und den Mut zu haben, sich eine bessere Zukunft auszumalen.
Mit «Monga» greifst du eine der grundlegendsten Fragen des Theaters auf: Wer schaut wen an – und wie? Als Performerin setzt du dich dem Blick des Publikums aus, forderst es aber zugleich heraus, sich mit den eigenen Sehgewohnheiten und Vorurteilen auseinanderzusetzen. Wie ist es für dich, nackt – und damit vermeintlich verletzlich – auf der Bühne zu stehen?
Ich empfinde mich auf der Bühne nicht als verletzlich. Meine Nacktheit zum Beispiel – sie bedeutet für mich keine Verletzlichkeit. Mein Körper ist alles für mich. Wirklich: mein grösstes Spielzeug, meine tiefste Freude, mein ernsthaftestes Forschungsfeld. Und ja, er ist auch zu einer Art Waffe geworden – ob ich das will oder nicht. Eine Form des Widerstands. Denn es gab eine Zeit – und in vielerlei Hinsicht gibt es sie immer noch –, in der Körper wie meiner zum Feind erklärt wurden. Da einfach zu stehen, nackt, ohne Waffen, nur mit meinem Körper… das hat eine eigene Kraft. Eine Kraft, die sanft ist – aber unübersehbar.
Ich arbeite seit über zehn Jahren mit Nacktheit auf der Bühne. Und ich habe im Theater, im Blick des Publikums, beobachtet, wie sich Dinge auflösen. Am Anfang starren sie. Sie starren auf jede Stelle meines Körpers. Aber nach fünf, zehn Minuten spüre ich: etwas verändert sich in ihren Gesichtern. Plötzlich scheinen die Menschen mehr Angst vor dem Funkeln in meinen Augen zu haben als vor meinem Körper. Sie beginnen, meinem Blick auszuweichen. Dann spüre ich die Verschiebung. Sie sind verunsichert. In diesem Moment wird Nacktheit zu nichts anderem als einer weiteren Form der Präsenz. Für mich ist das kraftvoll. Und zutiefst lustvoll.
Welches Potenzial siehst du in der physischen Ko-Präsenz von Performer*innen und Publikum im Theaterraum?
Nackt auf die Bühne zu treten ist eines meiner stärksten Statements. Es geht um Fleisch und Knochen – nicht mehr. Und zugleich geht es um Sprache. Um das, was Fleisch und Knochen hervorbringen können: künstlerische Sprachen, Narrative, politische und soziale Diskurse. Meine Inspiration ziehe ich aus Mythologie, Philosophie, Psychoanalyse – aber auch aus dem Leben. Und ich versuche, Gewissheiten zu demontieren. Es gibt nicht die eine Geschichte. Es gibt viele. Viele Arten, die Welt zu sehen. Nacktheit stellt jede Norm infrage. Sie untergräbt Gewohnheiten. Sie zerlegt das Konzept von Gewissheit. Und genau das ist für mich zutiefst beglückend. Ein tiefes Vergnügen.
Ich mache Theater, weil ich in meinem Leben etwas beobachtet habe: Wenn Menschen mich sehen – oder meine Arbeit sehen – behandeln sie mich danach oft besser. Als würde ich eine Mikrobewegung erzeugen, eine kleine Blase, in der weniger Gewalt herrscht. Ein Raum, in dem ich mit ein bisschen mehr Würde leben kann. Und ja, ich spreche in der Ich-Form. Aber ich weiss, es ist auch ein Wir. Es geht um uns alle. Um Körper wie meinen, wie Julias. Wir erschaffen diese Blasen – des Mitgefühls, des Lebens, des Widerstands.

Dein Stück beginnt mit der Frage: «Kannst du dir vorstellen, hundert Jahre alt zu sein?» Warum stellst du diese Frage – und welche Rolle spielt sie im Stück?
Weil die Welt, in der wir heute leben – mit ihren Kriegen, Krankheiten und extremistischen Politiken – uns die Fähigkeit genommen hat, uns eine Zukunft vorzustellen. Viele Menschen können sich nicht einmal vorstellen, vierzig zu werden. Das ist grausam. Denn die Vorstellungskraft ist vielleicht das Einzige, was uns wirklich unbegrenzt zur Verfügung steht. Ich glaube nicht wirklich an «Unendlichkeit» – aber wenn etwas ihr nahekommt, dann ist es die Vorstellungskraft. Und doch haben viele sie verloren. Auch ich habe sie früh verloren. Ich fange gerade erst an, sie mir zurückzuerobern. Sich älter zu denken – in fünf Jahren, in fünfzig – auch das ist ein Recht.
Ich habe einen Freund, Thutto. Er hat eine seltene Erkrankung und eine Behinderung. Er ist jetzt 35 – vielleicht einer der ältesten Menschen mit dieser Diagnose. Vor ein paar Jahren habe ich ihn gefragt: «Thutto, kannst du dir vorstellen, hundert Jahre alt zu werden?» Viele Menschen zögern bei dieser Frage. Es erzeugt so etwas wie einen kurzen Stillstand im Denken. Aber Thutto hat anders geantwortet. Und seine Reaktion hat mir etwas Entscheidendes klargemacht: Die eigentliche Angst ist nicht, sich vorzustellen, hundert zu werden. Die eigentliche Angst ist die zweite Frage, die ich später stelle: «Was, wenn du nicht vorher stirbst?» Wenn ich frage: «Wo wirst du mit hundert sein?», sagen viele: «Im Wald» oder «am Strand mit meiner Familie». Träumerische, schöne Antworten. Und ja, das ist berührend. Aber tief in uns wissen wir auch, was die Realität sein könnte. Ich denke, dass ich mit hundert wahrscheinlich eine Tracheostomie haben werde und einen Sauerstoffbeutel – aus vielen Gründen. Also fragte ich Thutto: «Glaubst du, dass Menschen Angst davor haben, sich alt vorzustellen – vielleicht sogar darauf angewiesen zu sein, dass andere sie füttern oder waschen?» Und er sagte: «Ganz bestimmt.»
Niemand will sich vorstellen, behindert zu sein. Aber die Wahrheit ist: Die Zukunft ist behindert. Wir werden älter. Die Welt dreht sich weiter. Thutto hat einmal etwas gesagt, das ich nie vergessen werde: «Die eigentliche Angst ist nicht, sich vorzustellen, hundert Jahre alt zu werden. Die Angst ist, sich vorzustellen, dass man tatsächlich so lange überlebt.» Diese Frage – «Wo wirst du sein?» – zwingt die Menschen dazu, sich etwas vorzustellen. Und ja, viele stellen sich einen schönen Ort vor. Aber dahinter liegt eine grosse Angst. Die Angst, Autonomie zu verlieren. Die Angst, abhängig zu werden. Und diese Angst ist gewaltsam – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber Menschen wie uns. Denn sie erzeugt einen Kreislauf – einen Kreislauf aus Verschweigen, Ablehnung und Grausamkeit. Deshalb finde ich es so wichtig, dass wir uns selbst mit hundert vorstellen – mit Lebensqualität. Nicht mit Verdrängung. Denn Verdrängung ist das, was wir bei der extremen Rechten sehen, bei Impfgegner*innen, bei jenen, die sich weigern, für andere oder sich selbst Sorge zu tragen. Wir hingegen müssen uns behaupten – und träumen. Und wenn sie uns das nehmen – unsere Fähigkeit zu träumen –, dann nehmen sie uns alles.
«Monga» ist weit mehr als eine konventionelle, frontale Theateraufführung. Ich habe das Stück als inspirierend, freudvoll und als Feier aller Körper erlebt, die sich in einem gemeinsamen Raum begegnen – trotz der Schwere des Themas. Wie würdest du das Stück selbst beschreiben – und worauf darf sich das Zürcher Publikum freuen?
«Monga» besteht aus unseren Körpern, die im Theaterraum zusammenkommen – aus Präsenz. Es ist eine Geschichte, die nicht in den Geschichtsbüchern steht. Eine Art, die Welt zu betrachten, die über die fünf Sinne hinausgeht. Das Publikum kann sich darauf einstellen, unterschiedliche Perspektiven angeboten zu bekommen. Ungewöhnliche Weisen, sich ein würdevolleres Zusammenleben vorzustellen. Darum geht es in «Monga». Das Stück wurzelt in einer brutalen Geschichte – dem Leben von Julia Pastrana. Doch es geht nicht darum, diese Gewalt zu wiederholen. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, den Kreislauf zu durchbrechen.
Ich verstehe das Stück als ein festliches Zusammenkommen, eine Art Gemeinschaftserlebnis – wie bei einem Familienessen, in Kirchen oder in Gemeinschaften, die etwas zusammen feiern. «Monga» bietet einen solchen Raum, der uns daran erinnert: Niemand tut irgendetwas allein. Und das ist etwas, das ich mir für meine Solostücke besonders zu Herzen genommen habe. Ich stehe vielleicht allein auf der Bühne – aber nichts, was ich tue, tue ich allein. Ich reise mit einem Team aus sieben oder acht Personen. Man sieht zwar nur mich im Scheinwerferlicht – aber dieser Moment existiert nur, weil hinter den Kulissen viele gemeinsam arbeiten. So, wie es im Theater eben immer ist.
Wenn mich jemand fragt, was man von «Monga» erwarten kann, dann sage ich: Erwartet die Demontage von Gewissheiten. Denn das, was in mir pulsiert, ist genau das – Ungewissheit. Die Möglichkeit, sich eine Zukunft vorzustellen, die vielleicht unklar ist – aber dennoch möglich. Und das gemeinsam, in einem geteilten Raum, mit all diesen einzigartigen Körpern.
Vielen herzlichen Dank für deine Zeit und für diesen inspirierenden Einblick in deine Arbeit. Wir freuen uns sehr darauf, dich im August in Zürich willkommen zu heissen.
Danke, Lea.
Credits
Interview: Lea Loeb
Das Gespräch fand auf Englisch, Portugiesisch und Spanisch statt.
Übersetzung ins Deutsche: Franziska Henner
Portraitfotos: Yasmin Gomes, Vera Carvalho
Fotos aus «Monga»: Patricia Almeida, Camila Rios