«WIR GEBEN NICHT AUF.»

 

Wie lebt es sich heute als Künstler*in in Argentinien? In seinem Stück «Vendo Humo» thematisierte der Künstler Juan Onofri Barbato 2023 am Zürcher Theater Spektakel die Auswirkungen der chronischen Hyperinflation auf die Kunstszene in Buenos Aires und die Produktionsbedingungen von freischaffenden Künstler*innen in der von Unsicherheit geprägten finanziellen Realität. Heute, unter der Präsidentschaft von Javier Milei, steht das Land vor neuen Herausforderungen ungeahnten Ausmasses. Trotz massiver politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen, die auch die Kulturinstitutionen im Land hart treffen, setzt Juan Onofri Barbato seine Arbeit fort. Kuratorin Lea Loeb sprach mit dem Künstler über den aktuellen Zustand der argentinischen Kunstwelt und die Bedeutung von Widerstand.

 

Vor eineinhalb Jahren hast du in deinem Stück «Vendo Humo» in Zürich von der grassierenden Inflation in Argentinien erzählt und darüber, welche Auswirkungen sie auf das Kunstschaffen hat. Seither hat sich in Argentinien viel getan. Seit über einem Jahr ist Javier Milei Präsident des Landes und sorgt mit seinem politischen Stil und seinen Massnahmen für internationales Kopfschütteln, während er gleichzeitig Bewunderer um sich schart. Wie erlebst du die aktuelle Situation in Argentinien? Was hat sich im Vergleich zu deinem Auftritt in Zürich im August 2023 verändert und was hat dich am meisten überrascht?

Argentinien erlebt derzeit eine radikale Veränderung – nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und kulturell. Die Massnahmen der aktuellen Regierung haben tiefgreifende Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Das Land ist zu einem Experimentierfeld für die extreme Rechte geworden. Die Regierung testet verschiedene Strategien, um ihre politischen und wirtschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen. Die extreme Rechte greift Gemeinschaften, Institutionen und Wertesysteme an, destabilisiert Netzwerke der Solidarität und baut ein globales Netzwerk extremer bis faschistischer Positionen auf.

Was mich am meisten überrascht hat, war die Intensität des Angriffs auf die Kultur. Milei hat seinen Wahlkampf unter anderem mit Angriffen auf den Kulturbereich bestritten. Eine der zentralen Rhetoriken der extremen Rechten – nicht nur in Argentinien, sondern auch in Teilen Europas – ist es, Künstler*innen als Kompliz*innen des Progressivismus darzustellen. Sie werden als Nutzniesser*innen eines vermeintlich verschwenderischen Wohlfahrtsstaates und als faule Menschen abgestempelt, die nicht arbeiten wollen und von von Subventionen leben – Subventionen, die angeblich die Bevölkerung verarmen lassen. Das Bild, das gerne bemüht wird: Künstler*innen klauen den armen Kindern das Essen vom Teller. Diese aggressive Rhetorik dominierte den gesamten Wahlkampf und wurde zur Basis für konkrete Massnahmen gegen den Kulturbereich.

Kannst du konkrete Auswirkungen beschreiben, die diese Politik auf die argentinische Kunstszene hat?

Es gab Einfrierungen nahezu aller Subventionsfonds für Kultur und die Schliessung des Nationalen Filminstituts. Das Nationale Theaterinstitut arbeitet mit einem Budget, das so weit hinter den Realitäten zurückbleibt, dass es kaum noch seine Aufgaben erfüllen kann. Institutionen und ihre Angestellten werden gezielt unter Druck gesetzt – indem beispielsweise keine Gehaltserhöhungen gewährt werden oder Angestellte in Arbeitsbereiche versetzt werden, für die sie nicht ausgebildet sind. So werden sie indirekt zum Kündigen gedrängt. Andere werden direkt entlassen – besonders betroffen sind Kunst- und Bildungsinstitutionen, das staatliche Gesundheitswesen, sowie alle Institutionen, die sich für Rechte von Minderheiten oder für den Schutz von natürlichen Ressourcen einsetzen. Wir erleben einen umfassenden systematischen Abbau von sozialen und demokratischen Strukturen. Die Kunstszene leidet massiv unter den Kürzungen und den wirtschaftlichen Umstrukturierungen. Viele unabhängige Künstler*innen kämpfen ums Überleben, da finanzielle Unterstützung kaum mehr verfügbar ist.

Künstler*innen arbeiteten in Argentinien schon immer unter unsicheren Bedingungen. Aber das Ausmass der Prekarisierung habe ich in diesem Ausmass nicht gekannt. Davon zeugt die massive Auswanderung von Künstler*innen. Die Zahl meiner Kolleg*innen, die das Land verlassen haben, ist erschreckend hoch. Diese Abwanderung hat massive Folgen. Die lokale Kunstszene verliert Netzwerke und kreative Partnerschaften und wird zunehmend fragmentiert. Vor allem aber verschärft sich die Zentralisierung der Kultur auf Buenos Aires. Ohne staatliche Unterstützung ist es fast unmöglich, Aufführungen und Produktionen in den Provinzen zu finanzieren. Für ein Land mit der geografischen Ausdehnung Argentiniens ist das katastrophal. All das wirkt sich direkt auf die Qualität und den Umfang künstlerischer Arbeiten aus. Weniger Ressourcen bedeuten weniger Möglichkeiten, bedeutende Werke zu realisieren – und das hat langfristige Folgen für die gesamte Kulturlandschaft.

 

In deinem Stück «Vendo Humo» hast du erwähnt, dass du als argentinischer Künstler auf europäische Unterstützung angewiesen bist, etwa durch Koproduktionen mit Kulturinstitutionen. Ich nehme an, dass diese Abhängigkeit sich weiter zugespitzt hat?

Ja, ohne Zweifel. Die nationale Förderung ist faktisch kaum mehr existent, entsprechend wird der internationale Austausch relevanter. Doch auch dieser ist bedroht – sei es durch wirtschaftliche Unsicherheiten oder politische Einschränkungen. Die meisten Künstler*innen haben aufgehört, überhaupt noch Förderanträge in Argentinien zu stellen – es ist schlicht aussichtslos. Die bereitgestellten Summen sind nicht an die realen Kosten angepasst. Offiziell heisst es, die Inflation sei eingedämmt. In Wirklichkeit sind die Preise in Pesos jedoch so drastisch gestiegen, dass das Leben in Buenos Aires mittlerweile fast genauso teuer ist wie in London, zumindest was Lebensmittel betrifft. Das gilt ebenso für Mieten, Kleidung oder Stromkosten. Kurz gesagt: Wir sind international isolierter denn je. Der Staat zerstört systematisch diplomatische und kulturelle Beziehungen. Und das macht es für argentinische Künstler*innen ungleich schwieriger, sich global zu vernetzen und zu finanzieren.

Wie ist es heute überhaupt möglich, eine Theaterproduktion in Argentinien zu realisieren? Und würdest du sagen, dass Kulturinstitutionen zu Orten des Widerstands geworden sind?

Auf jeden Fall! Als Zivilgesellschaft und als Künstler*innen müssen wir heute alternative Strukturen aufbauen, um zu überleben. Das können künstlerische Kollektive, Nachbarschaftsversammlungen oder antifaschistische und antirassistische Organisationen sein. In den letzten zwei Wochen haben sich beispielsweise neue Versammlungen gebildet, die von der LGBTQ+-Community initiiert wurden. Diese Organisationen sind noch keine offiziellen Institutionen, aber sie sind Netzwerke des Widerstands. Vor zwei Wochen gab es eine Demonstration mit zwei Millionen Menschen auf der Strasse – das ist gelebter Widerstand.

Heute können wir unsere Arbeit nur finanzieren, indem wir eigene Netzwerke und Strukturen aufbauen. Indem wir uns organisieren. Ein Theater am Leben zu halten, ist bereits ein Akt antifaschistischen Widerstands. Eine Theateraufführung auf die Beine zu stellen – egal wie klein sie ist – ist Widerstand. Vielleicht gibt es kein Geld für eine 20-köpfige Produktion, dann macht man eben ein Solo. Aber wir geben nicht auf.

 

In vielen nicht-europäischen Ländern gibt es innerhalb der Kunstszene eine starke gegenseitige Unterstützung, etwa durch ein Netzwerk von Workshops, das einer Art interner Kunstwirtschaftslogik folgt: Künstler*innen nehmen an Kursen anderer Künstler*innen teil und bieten gleichzeitig eigene Kurse an. In Argentinien ist dieses System besonders ausgeprägt. Kannst du uns dies erläutern?

Dieses autonome, selbstorganisierte Weiterbildungssystem ist in Argentinien unglaublich stark. Künstler*innen unterrichten sich gegenseitig, teilen Wissen und Ressourcen. So entsteht eine Kreislaufwirtschaft, die es ermöglicht, trotz fehlender staatlicher Förderung weiterzuarbeiten. Aber auch dieses System stösst an seine Grenzen, wenn die allgemeine wirtschaftliche Lage immer prekärer wird.

Ich selbst lebe seit 20 Jahren fast ausschliesslich vom Unterrichten. Die Kurse sind meine einzige stabile Einkommensquelle. Ich unterrichte elf Monate im Jahr, oft in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen. Viele meiner Kolleg*innen tun das Gleiche.

Diese Kurse sind nicht nur wirtschaftlich bedeutend, sondern auch soziale Schutzräume. Sie bieten besonders Minderheiten, wie z.B. neurodivergenten oder queeren Menschen, eine Form der Unterstützung. Am Ende des letzten Jahres sagten mir viele Teilnehmer*innen, dass diese Kurse essenziell für ihr emotionales Wohlbefinden sind. Ich selbst bezeichne meine Arbeit nicht als Therapie – ich bin kein Therapeut. Aber für viele geht es in diesen Kursen um viel mehr als um das Erlernen neuer Körpertechniken oder Chorografien. Ausserdem prägen und inspirieren diese Kurse auch meine eigene ästhetische Praxis als Künstler. Es sind Räume des Widerstands – das wird jetzt besonders deutlich. Wir unterstützen uns gegenseitig.

 

 

Donald Trump hat kürzlich angekündigt, die amerikanische Entwicklungshilfe massiv zurückzufahren. Dies wird auch Auswirkungen auf das internationale Engagement in der Kunstwelt haben. Ähnliche Forderungen hören wir auch von Politikerinnen in Europa und der Schweiz, wo derzeit die DEZA Bundesgelder für Kulturföderung in Krisenregionen streicht. Welche Auswirkungen könnten solche politischen Entscheidungen für Künstler*innen in Lateinamerika haben?

Das ist eine äusserst besorgniserregende Entwicklung. Kunst und Kultur sind essenziell für gesellschaftlichen Zusammenhalt und kritischen Dialog. Wenn diese internationalen Förderungen gestrichen werden, verlieren Künstler*innen aus Lateinamerika noch mehr Möglichkeiten, ihre Arbeit international sichtbar zu machen. Das führt zu noch stärkerer Isolation, weniger Dialog und letztendlich weniger kultureller Vielfalt.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene müssen wir dringend neue Modelle der Finanzierung und internationalen Zusammenarbeit entwickeln. Wir stehen an einem Wendepunkt. Wir müssen andere Wege der internationalen Vernetzung finden – vielleicht eine Mischung aus alten und neuen Ansätzen. Wir wissen noch nicht genau, wie das aussehen wird. Aber wenn diese Krise global ist – oder zu werden droht –, könnte das auch bedeuten, dass wir endlich auf weniger hierarchische Art zusammenarbeiten müssten und dass das historische Nord-Süd-Machtgefälle künftig weniger ins Gewicht fallen könnte. Idealerweise würden neue, symmetrischere Diskussionen über internationale Kunstkooperationen angeregt. Ich weiss es nicht genau. Aber eines ist klar: Es kann nicht sein, dass nur das Geld uns verbindet. Wenn es nicht mehr da ist, müssen wir andere Austauschmöglichkeiten schaffen – vielleicht auf eine Weise, die uns näher an unsere eigenen Praktiken bringt.

Wir sind uns einig, dass das Konzept der «Entwicklungshilfe» an sich problematisch ist, weil es immer von einem Ungleichheitsverhältnis ausgeht. Diese Struktur beschränkt sich nicht nur auf finanzielle Mittel.

Da stimme ich zu. Europäische und Nordamerikanische Kunst-Institutionen verfügen historisch gesehen über die grössten finanziellen Mittel. Dadurch haben sie oft die Macht, strukturelle Entscheidungen für die globale Kunstszene zu treffen – einschliesslich der Frage, welche Themen in der internationalen Kunst gefördert werden. Viele Künstler*innen aus dem Globalen Süden wurden dazu gedrängt, genau die Themen zu inszenieren, die in Europa gerade en vogue sind. Das hat auch künstlerische Ausdrucksformen beeinflusst, manchmal verzerrt.

Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft gemeinsam eine neue Agenda entwickeln, anstatt einfach die vorgegebenen Themen zu übernehmen. Vielleicht ist diese Krise eine Chance.

Ja, ich denke, wir müssen selbstbewusster unsere eigenen Themen bearbeiten. Vielleicht kann diese Situation den Grundstein für eine neue, gleichberechtigtere internationale Kunstszene legen.

 

Credits
Interview: Lea Loeb, am 12. Februar 2025 via Zoom.
Das Gespräch hat auf Spanisch stattgefunden.
Übersetzung ins Deutsche: Lea Loeb
Portraitfotos: Nacho Correa Belino
Fotos: «Vendo Humo» Ignacio Yuchark

, «Obra Veneno» Nacho Correa Belino