«Ich glaube, dass manche Momente so wichtig sind, dass sie nicht in Worte gefasst werden können.»

 

Mario Banushi ist eine der wichtigsten neuen Stimmen des europäischen Theaters. 1998 geboren, lebte er bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Albanien, bevor er dauerhaft nach Griechenland zog. Er studierte Schauspiel am Konservatorium in Athen. Während des Studiums war er Produktionsassistent für Euripides Ladkaridis Performance THIRÍO (Athen Biennale 2018). Nach seinem Abschluss im Jahr 2020führte er Regie bei dem Kurzfilm «PRANVERA» (TIFF 2021) und war als Schauspieler in den Performances «Marcel Duchamp» (2022) von Nova Melancholia und «City Lights» (2022) in der Regie von Amalia Bennett zu sehen. Ein Ausschnitt seiner Inszenierung «Ragada» wurde während Performance Rooms 2022 (Kappatos Gallery) präsentiert. Die Gesamtfassung feierte dann im Theatro sti Sala (Theater imWohnzimmer) Premiere. Sein nächstes Werk «Goodbye Lindita» wurde auf der Experimentalbühne des Nationaltheaters Athen aufgeführt. «Taverna Miresia. Mario Bella Anastasia», der letzte Teil der Trilogie, wurde im Juli 2023 am Athens Epidaurus Festival gezeigt und feiert nun Schweizer Premiere am Zürcher Theater Spektakel. Das Interview mit Mario Banushi führte Kuratorin Lea Loeb.

 

Mario, wir freuen uns sehr, dass du nach Zürich kommst. «Taverna Miresia - Mario, Bella, Anastasia» ist der dritte Teil einer Trilogie und wurde vor genau einem Jahr am Athens Epidaurus Festival uraufgeführt. Du hast die Trilogie im Jahr 2022 mit «Ragada» begonnen. Das zweite Stück hiess «Goodbye Lindita». Alle drei Teile handeln von Familie, Liebe und Trauer. Was hat Trauer mit Theater zu tun? Wie gehst du in deiner Arbeit mit Trauer um?

Mit meinem Stück «Goodbye Lindita» habe ich viel über Trauer gelernt, da es von meinem Leben, meiner Familie und meinen Erinnerungen handelt. Für mich ist dieses Stück wie eine Beerdigung, bei der ich das Andenken an meine Stiefmutter ehren möchte. Ich erinnere mich, wie sich die Glückwünsche des Publikums nach den Aufführung seltsam anfühlten, fast wie eine Trauerrede bei einer Beerdigung. Ich erinnere mich, dass ich anfangs sehr mit diesen Gefühlen zu kämpfen hatte. Ich ging mit einem sehr schweren Gefühl nach Hause und weinte in den ersten Wochen nach der Premiere sehr viel. In dieser Zeit habe ich verstanden, dass es ein Risiko ist, meine intimsten Gefühle auf der Bühne zu teilen. Aber ich habe auch verstanden, dass genau dieses Teilen sehr schön sein kann. Künstlerisch und persönlich mag ich es, Risiken einzugehen und aus meiner Komfortzone herauszutreten. Obwohl es eine sehr schwere und intensive Zeit für mich war, wurde mir klar, dass es das ist, was ich tun möchte. Ich möchte, dass meine Arbeit persönlich ist, und daran möchte ich auch in Zukunft nichts ändern, auch wenn mich das verletzlich macht. In Griechenland gibt es eine Redewendung: «Verstecke die Dinge nicht unter dem Teppich.» Denn natürlich verschwinden sie, aber irgendwann kommen sie wieder ans Licht. Indem ich meine Gefühle und meinen Kummer mit dem Publikum im Theater teilte, habe ich einen Weg gefunden, mich nicht zu verstecken. Es ist schon oft vorgekommen, dass das Publikum nach einer Vorstellung auf mich zukam, um mir ihre eigenen Geschichten mitzuteilen. Irgendetwas an meinen Arbeiten scheint die Menschen zu berühren und sie dazu zu bringen, ihre Gefühle ebenfalls mit anderen teilen zu wollen. Das ist schön zu sehen, und es macht mich stolz. Für mich ist das Theater ein Raum, in dem wir gemeinsam trauern können, in dem wir Gefühle teilen können, nicht nur Bilder und Worte.

In deinen drei Werken tauchen bestimmte Elemente immer wieder auf, zum Beispiel gibt es keine Figuren im klassischen Sinne oder auch keine durchgehende Erzählung. Ich würde deine Arbeit als visuelles Theater, als atmosphärische Erfahrung, oder als Tableau beschreiben. Kannst du dich damit identifizieren?

Ja, natürlich. Obwohl ich eigentlich selbst nie weiss, wie ich das, was ich mache, beschreiben soll (lacht). Manchmal nenne ich es Theater, manchmal Physical Theatre und manchmal Tanz, weil ich oft mit Tänzer*innen arbeite, und wir viel mit Bewegung und Körpersprache arbeiten. Ich probiere einfach aus, was mir als Künstler in den Sinn kommt, und ich möchte meine Praxis nicht einschränken. Ich bin gerne Regisseur, aber ich arbeite auch gerne mit meinen Händen und töpfere zum Beispiel. Ich zeichne auch viel. Mir gefällt die Kombination verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen.

 

Die Trilogie kommt ganz ohne Sprache aus. Theater ohne Text ist etwas, das wir selten sehen. Kannst du beschreiben, was gesprochene Sprache für dich bedeutet und warum du sie in deinen Stücken nicht verwendest?

Ich glaube, dass Worte sehr wichtig sind, vor allem solche, die wir mit geliebten Menschen oder in wichtigen Momenten unseres Lebens teilen. Es geht nicht darum, dass ich Worte für unnötig halte. Natürlich sind sie wichtig. In meinem Leben, in meinem Land und in meiner Gemeinschaft habe ich jedoch das Gefühl, dass wir viel reden, aber den Gefühlen nicht genug Raum geben. Wir geben der körperlichen Kommunikation keinen Raum. Besonders nach COVID haben wir dieses Gefühl der Verbundenheit verloren. Es gibt viele Gründe, warum ich in meiner Arbeit keine Texte verwende. Ein Grund ist, dass ich Trauer in meiner Familie ohne Worte erfahren habe. Wir drückten sie durch Weinen, Berühren, Umarmen, Essen und Trauern aus, indem wir einfach zusammen waren. Wir haben fast nicht gesprochen.

Ich glaube, manche Momente sind so wichtig, dass sie nicht in Worte zu fassen sind. In den entscheidendsten Momenten des Lebens fühlt es sich oft zu einfach an, etwas zu sagen. Da schaue ich lieber jemandem in die Augen und schweige. Auch in meinem Privatleben ziehe ich es vor, nicht zu viel zu reden. Ich gebe zwar Interviews und nehme an Fragerunden teil. Ich ziehe es aber oft vor, den Moment für sich selbst sprechen zu lassen, anstatt mich auf die Worte zu verlassen, die uns von Schulen, Eltern und Universitäten beigebracht wurden. Ich wehre mich dagegen, mich in eine Schublade stecken zu lassen, auch wenn ich spreche. Ich versuche, mich aufrichtig auszudrücken, als Mario, nicht als das, was andere von mir erwarten. Dies sind einige der Gründe, warum ich in meinen Arbeiten keinen gesprochenen Text einsetze. Das keine Entscheidung, die ich als solche getroffen hätte, sondern etwas, das sich ganz natürlich entwickelt hat. Seit meiner Kindheit liebe ich das Zeichnen und Bilder im Allgemeinen. Ich erinnere mich daran, wie ich Fotoalben meiner Familie durchblätterte und diese visuellen Erinnerungen immer aufs neue aufleben liess. Die Kleider meiner Mutter und Grossmutter auf diesen Fotos habe sind lebendig vor meinem inneren Auge. Ich konnte mir diese Alben stundenlang ansehen und mich völlig in diese Bilder vertiefen, in diese festgehaltenen Momente. Ich schätze das, was man sehen und riechen kann, mehr als das, was man mit Worten ausdrücken kann.

Als wir uns das erste Mal trafen und über deine Arbeit sprachen – ich hatte nur eine Aufnahme gesehen – sagtest du, dass das Video deine Arbeit überhaupt nicht repräsentieren würde. Dass ich deine Arbeit fühlen und riechen müsste, um sie zu verstehen.


Ja, meine Arbeit funktioniert stark über sensorische Elemente, insbesondere den Geruchssinn. Es ist sehr wichtig, meine Arbeit mit allen Sinnen zu erleben. In der gesamten Trilogie verwende ich einen bestimmten Duft. Es ist der Geruch von Weihrauch, der in Kirchen in Griechenland und verschiedenen Teilen des Balkans häufig verwendet wird. Er evoziert die Atmosphäre von Kirchen und Religion, Themen, die in meinen Arbeiten natürlich sehr präsent sind. Ich verbinde den Geruch auch mit einer Familientradition, am Sonntag Weihrauch zu Hause zu verbrennen, da das Glück bringen soll. Dieser Duft ist nicht nur für die Menschen aus dem Balkan von Bedeutung. Die Arbeit mit dem Geruchssinn ermöglicht eine besondere Verbindung mit dem Publikum.
Ich arbeite gerade an meinem neuen Stück und frage mich, welchen Duft ich verwenden und wie ich ihn einbauen soll. Ich genieße es, Momente zu schaffen, in denen das Stück, auch wenn das Licht aus ist und man es nicht sehen kann, durch den Geruch immer präsent bleibt. Wenn ich zum Beispiel auf der Bühne mit Keramik arbeite, kann das Publikum die Kombination aus Staub und Wasser riechen, die diesen erdigen Geruch erzeugt, den ich so sehr liebe. Was man im Dunkeln wahrnehmen kann, durch Hören oder Riechen, ist für mich genauso wichtig.

 

Ein weiteres wiederkehrendes Element in deinen Stücken ist die Nacktheit. Wir sehen nackte Körper jeden Alters, oft Frauen, und es gibt wiederholt Szenen, in denen die Körper auf der Bühne gewaschen werden. Kannst du mir mehr darüber erzählen?

Nacktheit ist keine bewusste Entscheidung, sie kommt natürlich im Prozess. Mein Team und ich diskutieren und entscheiden gemeinsam darüber. Für mich ist es wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen, und Nacktheit nicht nur um ihrer selbst willen zu zeigen. Ich nutze sie nicht aus, und ich glaube, dass es das Publikum nicht schockiert, wenn es einen Körper sieht, der sich auf der Bühne auszieht. Als Kind habe ich oft Frauen gezeichnet, weil ich von Frauen grossgezogen wurde – von meiner Grossmutter, Stiefmutter, Mutter und meinen Schwestern. Die Männer in meiner Familie waren nicht so präsent. Bis heute fühle ich mich wohler und vertrauter, wenn ich von Frauen umgeben bin. Das ist ein Grund, warum ich oft mit weiblichen Darstellerinnen arbeite. Und auch mit weiblicher Nacktheit. Nacktheit, wie der Geruchssinn, verbindet uns mit etwas Ursprünglichem und Erdverbundenem und erinnert uns daran, wie wir in diese Welt gekommen sind. Meine Arbeit zielt darauf ab, die gesellschaftlichen Schichten zu entfernen und zu den Grundlagen zurückzukehren: Erde, Nacktheit, Geburt, Geruch, Berührung und Umarmung – diese grundlegenden Erfahrungen unseres Lebens.

Was hat es mit dem Element des Waschens dieser Körper auf sich? Es kommt in allen drei Stücken vor.

Das Waschen der Körper war kein vorherbestimmtes Element für die Trilogie. Als ich jedoch feststellte, dass dieses Motiv des Waschens immer wieder auftauchte, begann ich seine Bedeutung und die einzigartigen und doch ähnlichen Botschaften zu schätzen, die es in den verschiedenen Werken vermittelt. In «Ragada» ist dieses Bild besonders wichtig. Die Darstellerin, die den Körper einer Frau wäscht und einseift, verbindet dies mit ihrer eigenen, sehr persönlichen Erinnerung. Wir unterhielten uns stunden- und tagelang über ihr Gefühl des Bedauerns und der Trennung von ihrer Herkunft. Sie fühlte sich verloren und losgelöst von ihren Wurzeln. Dieses Thema taucht auch in «Taverna Miresia» auf, wo eine Frau getauft wird. Ich denke, es spiegelt meine eigene Erfahrung als Albaner wider, der in Griechenland getauft wurde, wo unsere Namen geändert wurden. Ich erinnere mich, dass es sich anfühlte, als würde ich meine Herkunft, meine Erde und meine Familie verleugnen und vergessen. In «Taverna Miresia» hat die Frau, die getauft wird, Staub auf ihrem Körper, der ihr Heimatland repräsentiert. Der Akt des Abwaschens des Staubs symbolisiert das Lösen ihrer Verbindung zu ihrer Heimat. Die Waschszene ist wie eine erneute Taufe, bei der ich mich vor den Augen des Publikums vorbereite und reinige. Dieser rituelle Akt des Waschens meines Körpers und Geistes soll meine Bereitschaft zeigen, mich auf das Publikum einzulassen. Ich verbinde viele Erinnerungen mit diesem Waschritual. Für mich dient dieser Akt des Waschens unserer Körper auf der Bühne als Aufwärmübung, vergleichbar mit den Übungen, die manche Performer*innen machen, bevor sie auf die Bühne gehen. Wir wärmen uns auch hinter der Bühne auf, aber dieses Aufwärmen findet vor dem Publikum statt und ist ein wesentlicher Bestandteil des Stücks. Wir bereiten uns gemeinsam auf diese neue Begegnung vor.

 

Ein weiterer sehr interessanter Aspekt deiner Arbeit, der ein zentrales Element zu sein scheint, ist die Verflechtung von Häuslichem und Übernatürlichem. Kannst du dies näher erläutern?

Für mich ist das wie ein Spiel oder ein Trick. Wenn man jemandem etwas nahe bringen will, ist es einfacher, mit etwas Vertrautem zu beginnen. Ich beginne gerne mit Alltagsgegenständen, die jede*r kennt. Von dort aus führe ich nach und nach Elemente ein, die weniger vertraut und magischer sind. Ich würde ein Stück nicht gleich mit einem surrealen Bild oder mit Nacktheit beginnen, denn das könnte das Publikum abschrecken. Stattdessen möchte ich das Publikum zuerst in mein Universum einführen. Indem ich mit vertrauten Kulissen beginne – wie einer Waschmaschine, einem Tisch mit Stühlen oder einem Bett – fühlt sich das Publikum wohl. Nach und nach kommt die Magie dazu und ich verwandle die Welt, die sie kennen, in etwas anderes. Dieser Ansatz verhindert Unbehagen und ermöglicht es dem Publikum, sich zu öffnen, ähnlich wie es Kinder tun, wenn sie neuen und wundersamen Dingen begegnen.

Du möchtest damit die Aufmerksamkeit auf die Magie in unserem täglichen Leben lenken?

Ganz genau. Ich glaube an die Energie von Gegenständen und ihre Geschichte. Ich liebe die Gegenstände in meinem Haus und erinnere mich gern an ihre Geschichten. Die Objekte haben schon vor uns gelebt, und ich schätze diese Verbindung zu einer anderen Zeiten. Dieses Interesse an Gegenständen und ihrem eigenen Leben überträgt sich auf meine Arbeit. Die Bewegung eines Vorhangs durch den Wind, zum Beispiel, hat für mich etwas Magisches und Symbolisches. Die Luft, die den Vorhang bewegt, symbolisiert die unsichtbaren Kräfte, die unser Leben beeinflussen. In meinen Performances spielen die Objekte neben den Darstellern eine wichtige Rolle und schaffen einen Dialog zwischen dem Greifbaren und dem Surrealen.

Wie ist es für dich, in deinen eigenen Stücken aufzutreten?

Es ist seltsam, denn ich habe nie das Gefühl, eine Rolle zu spielen. Ich fühle mich wirklich wie ich selbst, wie Mario. Ich beobachte meine Familie, meine Erinnerungen und die Dinge, die ich in meinem Leben gesehen habe, auf der Bühne. Das begann mit «Ragada», dem ersten Stück, das ich geschaffen habe und das sehr hausgemacht war. Ich hatte kein Budget, um jemanden zu engagieren, der sich um die Musik oder die Beleuchtung kümmert. Also habe ich alles selbst gemacht – ich habe performt, Musik von meinem Handy abgespielt und die Beleuchtung gesteuert. Es war wie eine Ein-Mann-Show. Ich beschloss, in der gesamten Trilogie als ich selbst aufzutreten. Ich geniesse es, auf der Bühne zu stehen, meine Familie zu beobachten und Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. So bin ich an die Trilogie herangegangen, als Mario – als Regisseur und Künstler, der tief in Erinnerungen verstrickt ist, die gleichzeitig auch meine Arbeit sind.

Gibt es etwas, das du dem Zürcher Publikum mitteilen möchtest?

Ich fühle mich geehrt, der erste albanische Künstler zu sein, der im Hauptprogramm des Festivals präsentiert wird. Das ist ein bedeutender Meilenstein für mich und ein wichtiger Schritt für die albanische Gesellschaft und die Diaspora in der Schweiz, wie ich glaube. Ich bin dankbar für diese Gelegenheit und freue mich, Zürich und die Schweiz zum ersten Mal überhaupt zu besuchen. Ich habe Verwandte in der Schweiz, mit denen ich bisher nur telefoniert habe, und jetzt werde ich sie persönlich kennen lernen. Diese Reise ist also nicht nur Arbeit für mich, sondern auch eine Chance, meine Arbeit vorzustellen und mit meiner Familie in Kontakt zu kommen. Ich freue mich auf eine ganz besondere Erfahrung.


Credits
Interview: Lea Loeb
Fotos: Afroditi Kapokaki, Nassia Stouraiti und Theofilis Tsimas übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Franziska Henner