«Wir alle kennen Verlust»

Interview mit Miet Warlop

 

Die Stücke von Miet Warlop sind lustig und oft anstrengend für ihre Performer*innen. Die Künstlerin, die Performances und Theater inszeniert, versteht ihre Arbeiten als «metaphorischen Exorzismus». Am Theater Spektakel zeigt sie «One Song – Histoire(s) du Théâtre IV» und «After All Springville – Disasters and Amusement Parks». Im Interview spricht sie über sorgfältig geplantes Chaos auf der Bühne, Komik und Verlust. Das Gespräch für das Theater Spektakel führte Philipp Hindahl.

 


Philipp Hindahl: Miet Warlop, die Ausdauer der Schauspieler*innen in «One Song» ist beeindruckend, denn das Stück scheint ziemlich anstrengend. Was passiert da zwischen Sport, Theater und Musik?

Miet Warlop: Es kommen verschiedene Dinge zusammen. Das Stück war ein Auftragswerk für die von dem Theatermacher Milo Rau initiierte Reihe «Histoire(s) du théâtre», und ich wurde gebeten, auf meine eigene Praxis zurückzublicken. Das allein ist schon keine leichte Aufgabe. Also habe ich im Zusammenhang mit den «Historie(s) du théâtre» darüber nachgedacht, was ein Aufführungsort historisch eigentlich ist. Die ersten Arenen waren ja dem Sport gewidmet, die ersten Aufführungen waren Wettbewerbe. Es ist interessant, das Theater wieder in eine Art Sportarena zu verwandeln. Sport zu betrachten bedeutet, an etwas zu glauben, es zu kommentieren und zu unterstützen. Man kann urteilen und gleichzeitig der grösste Fan sein. In einem solchen hysterischen, kollektiven Moment kommen viele Emotionen zusammen. Mit «One Song» haben wir beschlossen, fröhlich unterzugehen – aber nicht ernsthaft. Die Wiederholbarkeit des Stücks schafft eine eigene Dynamik. Es erhebt sich über uns alle, über das Publikum und über die Darsteller*innen.

Es gibt verschiedene Elemente und verschiedene Akteur*innen auf der Bühne: eine Band, die einen Song spielt und gleichzeitig Sport treibt, Fans, die sie anfeuern, und dann ist da noch die Ansagerin, die seltsamerweise ein drittes Bein hat.

Das ist das Echo einer frühen Solo-Performance, bei der ich auf einem Tisch lag und ein drittes Bein hatte – eine Gipsskulptur. Da gibt es so eine Frage, die ich gerne stelle. Ich frage die Leute, ob sie sich in ihrem Leben eher als Pianist oder als Schlagzeuger fühlen. Oder sind sie eher wie die Geigerin? Sind sie völlig konzentriert und im Gleichgewicht, aber nehmen ihre Umgebung kaum wahr? Sie alle haben eine Verbindung zu einem Affekt. Für die Ansagerin mit ihrem dritten Bein ist es einfach, über allem zu stehen und zu sagen: «Allez, komm schon.» Sie ist die Stimme, die man im Kopf hat.

Bei jeder Wiederholung macht die Band Fehler, und die Körper der Darstellenden kommen ihnen schliesslich in die Quere.

Sie singen gegen die Zeit und es ist ein Spiel gegen das Metronom. Es wird schneller, und sie rennen kollektiv dem Burnout entgegen – und dem Tod.


Die erste Zeile des Songs lautet auch «Run for your life until you die.» Streben Sie eine transzendentale Erfahrung an, wenn Sie die körperlichen Grenzen Ihrer Performer*innen überschreiten?
Das Stück fungiert auch als ein Requiem, wenn man es mit dem Tod meines Bruders in Verbindung bringt. Der Horror ist, wenn es einem selbst passiert, aber der Satz ist eigentlich sehr simpel. Wir alle wissen, dass wir bis zum Tod um unser Leben rennen. Das ist die conditio humana, wir alle kennen Verlust. Der «One Song» funktioniert wie ein metaphorischer Exorzismus, der sich an die Menschen wendet, anstatt ihnen die Dinge so zu präsentieren, wie sie sind. Es ist expressiv in seiner Energie, aber unter dieser Oberfläche versucht es, jede*n einzubeziehen.

«One Song» ist Teil von «Histoire(s) du théâtre». Das Wort histoire hat eine doppelte Bedeutung: Geschichte und Historie, und Sie haben jetzt über Ihre persönliche Geschichte gesprochen. Steht sie auch im Zusammenhang mit dem Rest Ihrer Arbeit?

Wenn Sie meine Arbeit eine Weile verfolgen, werden Sie in diesem Stück viele Anklänge erkennen. Zum Beispiel das dritte Bein oder den sich drehenden Cheerleader – es gibt ein Stück, in dem ich das eine Stunde lang mache. Hier kommt hinzu, dass die Protagonist*innen ein Konzert spielen und singen. Ich habe in den letzten Jahren viele verschiedene Szenen entwickelt, die neu entstehen und immer wieder auftauchen. Es ist schön, dass sie in anderen Formen und Projekten wiederkehren.

Sie haben Multimedia-Kunst in Gent studiert. In der bildenden Kunst stelle ich mir den Arbeitsprozess anders vor als im Theater. Dort arbeiten Künstler*innen nicht unbedingt im Kollektiv, sondern eher allein.

Früher habe ich das gemacht, auch wenn ich heute glaube, dass ich nie etwas alleine mache – man arbeitet nie isoliert. Für mich ist die Bühne ein Ort, an dem die Dinge zusammenkommen. Und das Tolle an der Arbeit auf der Bühne ist, dass man die Grundregeln dieser Welt bestimmen und seinen toten Skulpturen eine Haltung verleihen kann.

Wenn man über Ihre Arbeiten liest, stösst man als erstes auf das Wort Objekttheater. Bei Ihnen spielen Objekte eine grosse Rolle, aber woher kommt dieser Begriff?

Ich finde erstaunlich, wie die Leute das sehen. Darüber würde ich nicht nachdenken, aber es ist auch nicht meine Aufgabe, meine Arbeit zu definieren. Für die einen ist es Zirkus, für die anderen Puppentheater, für wieder andere ist es ein dreidimensionales Gedicht. Die Leute denken, ich sei Tänzerin, was ich nicht bin, und ich bin auch keine Choreografin, aber ich finde all diese Dinge interessant.

Vielleicht liegt es daran, dass in «After All Springville» – das Sie auch beim Theater Spektakel zeigen werden – Objekte auf menschenähnliche Weise interagieren und Menschen sich wie Objekte verhalten, alles Zutaten für Slapstick-Comedy. Sollen Ihre Stücke denn auch lustig sein?

«After All Springville» ist eine Übung darin, wie ein Gag funktioniert und wie er sich durch den Raum bewegt. Es ist eigentlich eine Abfolge von einem Tableau Vivant zum anderen. In dieser Bewegung passieren eine Menge Dinge, und am Ende ist es lustig. Die Zusammenstösse sind auf Sekundenbruchteile genau abgestimmt.


Die Dinge müssen im richtigen Moment explodieren!

...während die meisten Darsteller*innen nichts sehen. Wenn man zu lange zögert, wird der Startschuss von den anderen Schauspieler*innen um einen herum übersehen. Das Poetische an «After All Springville» ist, dass die Akteur*innen bei A anfangen und ihnen auf ihrem Weg zu B und C eine Menge Dinge zustossen. Dazwischen geht viel schief.

Man könnte schnell den Eindruck bekommen, dass es bei dem Stück um Chaos geht. Dabei scheint das Gegenteil der Fall.

Sie haben Recht. Ich habe noch nie ein so sorgfältig choreografiertes Stück gemacht. In einer älteren Arbeit, «Mystery Magnet», haben wir Hunderte von Litern Farbe verschüttet. Die Veranstaltungsorte kleideten ihre Hinterbühnen in Plastik ein. Aber nicht ein einziger Tropfen gelangte neben die Bühne. Wissen Sie, warum? Wenn man so etwas macht, muss man sich genau bewusst sein, was man da tut. Chaos auf der Bühne ist das Organisierteste, was es gibt.

Wie kommunizieren die Schauspielenden in «After All Springville», wenn sie nichts sehen? Woher wissen sie, wann sie sich bewegen müssen?

Sie hören sich gegenseitig zu. Es ist das visuellste Stück, das ich gemacht habe, und ich finde es toll, dass wir «After All Springville» auch mit dem Ohr und nicht nur mit dem Auge beurteilen müssen.

Erzählt das Stück eine Geschichte über eine Gesellschaft im Zusammenbruch?

Es handelt von einer erschwerten Art, miteinander umzugehen. Ich habe in meinen Stücken immer eine Empfängerinstanz, und in «After All Springville» ist es der Mann, der das Haus verlässt und sich fragt: Was? Wir wissen nicht, ob er fantasiert oder nicht. Er weiss es auch nicht, aber er ist trotzdem der Empfänger des Stücks. Das habe ich vom Kino gelernt.

Sie meinen, dass es einen Stellvertreter für das Publikum gibt?

Das ist die Quintessenz. Es erlaubt dem Publikum, mehr über das nachzudenken, was auf der Bühne passiert – ohne, dass es direkt angesprochen wird.

Der Untertitel lautet «Disasters and Amusement Parks». Was bedeutet das?

«After All Springville» endet eigentlich in dem Moment, in dem der Tisch am Boden liegt. Dann geht es über in ein Stück, das ich in Gent gemacht habe und für das ich Plastikröhren verwendet habe. Es hiess ursprünglich «Amusement Parks, Tunnels of Thought, Pillars of Creation». Fünfzehn Kilometer Schlauch haben sich in dem Kunstzentrum, in dem es uraufgeführt wurde, entfaltet: durch die Büros, ins Theater, über das Dach, in und aus den Fenstern. Für «After All Springville» habe ich mir gedacht, «Amusement Park» in das Werk einzubauen. Ganz am Ende erstrecken sich die Röhren über das Publikum und über ihre Köpfe, so dass man das Gefühl hat, selbst im Stück zu sein. Schliesslich können wir das nicht ganz kontrollieren, was ich sehr passend finde. Wir blasen die Röhren mit Druckluft auf, und sie öffnen sich, mal langsam, mal schnell. Und die Leute fragen sich: Wo geht das hin? Eine Katastrophe in Form eines Vergnügungsparks.

Interessanterweise wird das Stück als familienfreundlich bezeichnet. Wie unterscheidet sich ein familienfreundliches Werk von Ihren anderen?

Meine Kinderstücke, wie «Big Bears Cry Too», sind vielleicht die am wenigsten kinderfreundlichen Arbeiten, die ich je gemacht habe. Zuschauer*innen sind schon mit ihren Kindern rausgegangen, weil es in den Stücken um Albträume geht und darum, wie leicht Teddybären und Geister zu verwechseln sind. Die Arbeiten sind bunt und explosiv, und ich scheue mich nicht, unterhaltsame Elemente zu verwenden. Kinder geniessen das, aber es gibt viele Bilder und Effekte, die tief in der Seele wirken. Es ist nicht zur reinen Unterhaltung gedacht.

«One Song» und «After All Springville» – wie gehören diese beiden Stücke zusammen?

Es ist interessant, dass das Theater Spektakel beide Stücke zeigt, denn sie sind sehr unterschiedlich. «One Song» ist überwältigend und zielt auf ein gemeinsames Erlebnis, während «After All Springville» zum Anschauen gedacht ist. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. In «After All Springville» sehen fast alle auf der Bühne wegen der Kostüme nichts, so dass die Darstellenden, bevor sie anfangen, eine Verbindung zueinander herstellen müssen. Dann müssen sie es gemeinsam durch das Stück schaffen – sich gegenseitig wahrnehmen und aufeinander hören. Es geht um Vertrauen. Und dann gibt es in «One Song» eine Energie, die die Darsteller*innen auf die andere Seite bringt, und sie helfen sich gegenseitig durch diese Stunde. Das verbindet die beiden Stücke miteinander.

 

Miet Warlop zeigt «One Song – Histoire(s) du Théâtre IV» vom 17. - 19. August 2023 auf der Seebühne und «After All Springville» vom 30. August bis am 2. September 2023 im Süd.

Credits

Interview: Philipp Hindahl

Aus dem Englischen übersetzt