PUSHING THE MOVEMENT TO ITS LIMITS | AN DIE GRENZEN DER BEWEGUNG GEHEN

Die Choreografie «Silent Legacy» von Maud Le Pladec feat. Jr Maddripp vereint verschiedene zeitgenössische Tanzstile in einer generationenübergreifenden Begegnung zwischen Tänzer*innen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds. Auf der einen Seite stehen die versierten zeitgenössischen Tänzerinnen Audrey Merilus und Siaska Chareyre und auf der anderen Seite Adeline Kerry Cruz, ein 11-jähriges Tanz-Talent aus Montreal, und ihr Mentor Jr Maddripp. 


Kevin Gohou, alias Jr Maddripp, geboren in Frankreich und auch bekannt als Westrock oder Intimidate, wird als Pionier der Krump-Bewegung in Europa gefeiert. Er lernte von Tight Eyez, einem der ursprünglichen Erfinder von Krump. Jr Maddripp, der heute in Montreal lebt, gibt sein Wissen als Mentor weiter, nimmt an Battles teil und ist Juror bei renommierten Tanz-Events weltweit. Seine tiefe Leidenschaft für den Tanz hat zur Zusammenarbeit mit bekannten Künstler*innen und Unternehmen wie dem Cirque du Soleil, dem Cirque Éloize und The 7 Fingers geführt.

Adeline Kerry Cruz erregte zunächst mit ihren Hip-Hop-Tanzvideos im Internet Aufmerksamkeit, u.a. auch die von Maud le Pladec. Inzwischen hat Adeline ihre Berufung in der dynamischen Welt des Krump gefunden. Unter der Anleitung ihres Mentors Jr Maddripp hat sie ihre Skills in Tanzbattles und künstlerischen Kollaborationen verfeinert.

Zusammen mit der Tänzerin Siaska Chareyre und in Begleitung der Elektro-DJane und Komponistin Chloé Thévenin performen Adeline und Jr Maddripp im Stück «Silent Legacy», das auf der Seebühne des Zürcher Theater Spektakel seine Schweizer Premiere feiern wird. Unsere Kuratorin Maria Rößler hat sich mit Adeline und Jr Maddripp kurz vor einem Auftritt in Wien getroffen.

Danke, dass ihr euch mit mir zu diesem Interview trefft! Wir haben nicht viel Zeit, da ihr in etwa einer Stunde schon auf der Bühne stehen werdet. Bald kommt ihr mit dem Tanzstück «Silent Legacy» nach Zürich. Ihr tanzt Krump, einen Tanzstil, der in den späten 1990er Jahren von Schwarzen Communities unter dem Eindruck von Rassenungerechtigkeit, Gewalt und Unterdrückung in Los Angeles entwickelt wurde. Der Style und die Kultur des Krump werden jedoch seither von einer ständig wachsenden Tanz-Community auf der ganzen Welt gefeiert. Du bist selbst ein Beispiel dafür, Jr Maddripp. Du kommst ursprünglich aus Paris und lebst jetzt in Montreal. Wann und wie hat deine Beziehung zu Krump begonnen?

Jr Maddripp: Ich sah einen Film namens «Rize» und verliebte mich sofort in Krump – die Leidenschaft dahinter, die Charaktere, die Komplizenschaft und auch die Einfachheit. Das war es, was mich zu Krump getrieben hat, und ich habe diesen Weg seither weiterverfolgt. Ich habe viele wunderbare Seelen und Menschen getroffen, die mich auf dieser Reise unterstützt haben.

Adeline: Ich tanze, seit ich vier bin. Eines Tages, als ich sechs war, rief jemand meinen Vater an und wollte, dass ich ein Video mache. Sie schlugen vor, dass ich Krump tanze. Ich wusste gar nicht, was Krump ist, aber ich fand es wirklich cool. Also habe ich es gemacht und es fühlte sich gut an. Es gefiel mir so sehr, dass ich mit Krump weitermachen wollte. Und dann habe ich Jr Maddripp getroffen.

In Zürich werdet ihr einen Workshop für Jugendliche leiten. Wie würdest du deine Erfahrungen mit dem Krump-Training und der Weitergabe dieses Tanzes von Mentor zu Junior, von Generation zu Generation beschreiben? Wie verortest du dich in Bezug auf das Erbe von Krump?

Jr Maddripp: Ich versuche, an die Grenzen der Krump-Bewegung zu gehen und sie zu erweitern. Ich bin nicht jemand, der etwas Neues erfunden hat, aber ich schaffe Möglichkeiten und erhöhe die Anerkennung von Krump. Meine Arbeit besteht darin, alle, egal aus welcher Generation, durch Krump zu ermuntern und sie zu inspirieren, an sich zu arbeiten, sich im Tanz besser auszudrücken. Die beste Art zu lehren ist, zu verstehen, wie man selbst gelernt hat und welche Schritte für einen selbst schwierig waren, damit man der zukünftigen Generation helfen kann, sich zu entwickeln und zu verbessern. Als Lehrer versuche ich immer, auch Schüler zu bleiben. Also entwickle ich die Informationen, die ich vermittle, stets weiter und integriere neue Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten.

 

Krump ist ein sehr ausdrucksstarker, energiegeladener und emotionaler Tanz. Ich sehe darin Wut, Schmerz, aber auch Freude, viel zwischenmenschliche Resonanz und manchmal Humor. Was sind für dich die zentralen Elemente?

Jr Maddripp: Krump ist mehr als Ausdruck; es geht auch um den Charakter und darum, wie man sich selbst wahrnimmt. Das kann etwas sein, was man im Laufe des Tages erlebt hat – Freude, Traurigkeit oder etwas aus der Vergangenheit. Jeder kann Krump tanzen. Du musst keinen Albtraum von einem Leben haben, um gut darin zu sein. Es kann dir helfen, dich zu befreien, indem du dein höheres Selbst und deine innere Energie in den Stil und die Bewegung einfliessen lässt. Krump kann hässlich oder sehr schön aussehen, weil es viele verschiedene Energien einfängt.

Adeline, welche Energien oder Gefühle treiben dich an, wenn du Krump tanzt, und insbesondere für deine Performance in «Silent Legacy»?

Adeline: Wenn ich tanze, fühle ich mich gross und schön, wie eine Erwachsene. Ich bin sehr klein und schüchtern, aber wenn ich tanze, fühle ich mich sehr gross und cool.

Was ist euer Lieblingsmoment in dem Stück?

Adeline: Meine Lieblingsstelle ist, wenn ich singe. Normalerweise sehen die Leute mich tanzen, aber nicht viele Leute hören mich singen.

Jr Maddripp: Mein Lieblingsmoment ist, wenn Siaska, oder Audrey, einen Kreis um die Bühne tanzt. Das hat eine Kraft, als ob sie versucht, in die Vergangenheit zu schauen, aber durch die Zukunft, indem sie sich an ihre Fehler und alles, was sie gefühlt hat, erinnert und dann in die Zukunft zurückgeht. Als ob man nie wirklich in der Gegenwart lebt.

«Silent Legacy» wurde 2022 uraufgeführt. Adeline, du warst zu dieser Zeit acht Jahre alt. Wie verlief der Entstehungsprozess? Wie habt ihr alle zusammen die Choreografie entwickelt?

Adeline: Ich erinnere mich an meine Aufwärmübungen mit Maud. Wir haben einige zeitgenössische Bewegungen gemacht. Ich habe alle meine Ideen während der Entwicklung eingebracht. Alle waren sehr nett zu mir und haben mich unterstützt.

Jr Maddripp: Die Entwicklung hat Spass gemacht, weil ich viel von Maud gelernt habe, was ihre Art zu kreieren und Regie zu führen angeht. Ich wollte mehr darüber erfahren, wie man etwas für verschiedene Zielgruppen erarbeitet. Ich wusste, wie ich für mein eigenes Publikum kreieren kann, aber nicht für ein Publikum aus einem anderen Genre. Ich mochte es, den Teil mit Adeline zu entwickeln und zu choreografieren, an verschiedenen Perspektiven von Krump zu arbeiten und daran, wie dieser im Vordergrund stehen könnte.

«Silent Legacy» tourt nun schon seit mehr als zwei Jahren erfolgreich durch Europa. Herzlichen Glückwunsch! Wie war es für euch, mit der Show auf Tournee zu sein?

Adeline: Danke! Ich hatte viel Spass, weil ich viele Menschen in anderen Ländern kennengelernt habe, mit denen ich mich zuvor auf Instagram ausgetauscht habe und sie dann zum ersten Mal getroffen habe. Ich habe es genossen, neue Orte zu besuchen und Zeit mit meiner Familie zu verbringen, etwas über andere Länder zu erfahren und Geschenke für meine Freund*innen und meine Schwester mitzubringen.

Und wie ist es, Krump in einem choreografierten theatralischen Setting aufzuführen, im Vergleich zu üblicheren Krump-Umgebungen und Tanzbattles?

Jr Maddripp: Es ist gar nicht so anders; es ist einfach eine andere Energie und eine andere Art, Dinge zu tun. Wenn man freestyle tanzt, bekommt man das authentische Gefühl. Choreografie gibt eine bestimmte Richtung vor. Innerhalb einer solchen Einschränkung kann man überhaupt erst choreografieren und verfeinern.

Ihr arbeitet beide unablässig an eurer eigenen künstlerischen Entwicklung – auch über «Silent Legacy» hinaus. Woran arbeitet ihr derzeit und was habt ihr nach dieser Tournee vor? Worauf freut ihr euch in der Zukunft?

Jr Maddripp: Ich arbeite an meinem eigenen Projekt namens «Vice». Es befindet sich noch in der Entwicklung. Ich arbeite auch an weiteren Kollaborationen und habe eine Tournee mit einer anderen Produktion in Quebec vor mir.

Adeline: Ich gehe bald in die High School, also werde ich versuchen, mich dort zurecht zu finden. Aber ich möchte unbedingt an einem Skateboard-Programm teilnehmen. Ich glaube, das wäre wirklich cool. Mein Vater macht Skateboarding. Das ist aufregend. Und nach dieser Tournee werde ich mit einem befreundeten Beatboxer eine Tanzperformance machen. Ich glaube, das wird auch sehr gut.

Das klingt fantastisch! Danke, dass ihr mit mir gesprochen habt. Ich lasse euch jetzt gehen, damit ihr vor eurem Auftritt gleich noch etwas Zeit habt.

Adeline: Danke!

Vielen Dank, und alles Gute für heute Abend!

Jr Maddripp: Danke. Einen schönen Abend noch!

 

Credits
Interview: Maria Rößler
Fotos: César Vayssié
übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Franziska Henner