Ökologien der Ausbeutung

Ein Zoom-Gespräch zwischen Manuela Infante und Lea Loeb (Zürcher Theater Spektakel)

Die chilenische Theatermacherin Manuela Infante zählt zu den prägendsten Stimmen des zeitgenössischen Theaters in Lateinamerika. Mit politischer Präzision, poetischer Sprachgewalt und subversivem Humor hinterfragt sie etablierte Vorstellungen von Mensch, Natur und Macht – und entwickelt zugleich neue Formen der Körperlichkeit auf der Bühne. Anlässlich der Präsentation ihrer neuen Arbeit Vampyr beim Zürcher Theater Spektakel sprach sie mit Kuratorin Lea Loebüber postkoloniale Perspektiven auf erneuerbare Energien, den Vampir als widerständige Figur, über Humor und Erschöpfung – und darüber, warum das Theater ein Ort produktiver Verwirrung sein sollte.

Hallo Manuela, vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast. Im August wirst du im Rahmen des Zürcher Theater Spektakels dein neues Stück «Vampyr» präsentieren. Die Inszenierung besticht durch ihre vielen thematischen Ebenen. Auf den ersten Blick sehen wir zwei Vampire auf der Bühne – zwei unglaublich komische und liebenswerte Figuren. Doch das Stück behandelt auch auf kritische Weise Themen wie die Ausbeutung im kapitalistischen Arbeitsmarkt, neokoloniale Machtverhältnisse und vieles mehr. 

Es ist nicht das erste Mal, dass Vampire in deiner Arbeit auftauchen. Was fasziniert dich an dieser Figur? Und ganz konkret: Was interessiert dich am lateinamerikanischen Vampir?

Was mich schon immer am Vampirmythos faszinierte, war seine hybride Natur, die sich festen Kategorien entzieht: Er ist weder lebendig noch tot, weder Tier noch Mensch – und gleichzeitig zerfällt er, ist also auch ein Stück weit Erde. Diese Koexistenz an der Schwelle zieht mich an, und ich habe sie in mehreren Arbeiten erforscht. Der Vampir ist eine weit verbreitete mythologische Figur, doch mich interessiert, dass er sich gegen Kategorisierungen sperrt: Mensch/Nicht-Mensch, Natur/Kultur, zivilisiert/wild. Er widersetzt sich der Fiktion des Menschen als einem vom Rest der Welt getrennten Wesen – eine Erfindung der europäischen Moderne.

Seit Langem arbeite ich daran, die kolonial geprägte Kategorie des «Menschen» zu dekonstruieren. Der Vampir erlaubt es, aus einer Perspektive des Globalen Südens zu sprechen. Denn der Kolonialismus zerstörte jene verwobenen Weltanschauungen, in denen Menschliches und Nicht-Menschliches nicht getrennt gedacht wurden. Doch diese Sichtweisen existieren weiter. Ich sehe das Theater als Ort des Widerstands, an dem solche Kategorien ins Wanken geraten können. Einen «Vampiro sudaka» (lateinamerikanischer Vampir) zu erfinden, ist ein Akt des Ungehorsams gegenüber den auferlegten Unterscheidungen. Das ist nicht der europäische Dracula, dieser Herr in seiner Bibliothek. Unser Vampir ist ein Mischwesen, das die kolonialen Identitätsmuster sprengt.

Donna Haraway sagt, dass man ein Gegenüber zunächst symbolisch töten muss, um es ausbeuten zu können – indem man es von sich trennt, es externalisiert. «Ich bin Mensch, das ist Tier»; «Ich bin Kultur, das ist Natur». Solche Trennungen ermöglichen überhaupt erst Ausbeutung. Deshalb müssen wir diese Kategorien hinterfragen, denn sie wurden geschaffen, um koloniale Aneignung zu rechtfertigen.

Heute wird viel über das Nicht-Menschliche gesprochen – vor allem im künstlerischen und theoretischen Diskurs des globalen Nordens. Doch oft wird dabei vergessen, dass genau diese Trennlinien ursprünglich gezogen wurden, um koloniale Praktiken zu ermöglichen. Wenn wir Kolonialismus als Aneignung des Anderen verstehen, dann müssen wir auch erkennen, dass diese Unterscheidungen dafür essenziell waren. Darum ist die Figur des «sudaka»-Vampirs nicht nur ein poetisches Bild. Sie ist ein Akt des Widerstands – eine Weigerung, den kolonialen Logiken weiter zu folgen, nach denen wir bis heute denken und handeln.

In früheren Arbeiten hast du dich bereits mit der Privatisierung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen beschäftigt – ein Phänomen, das in vielen Teilen des Globalen Südens grausame Realität ist. In Chile ist das Thema besonders brisant, etwa die zerstörerische Ausbeutung seltener Erden und Metalle durch grosse europäische oder nordamerikanische Konzerne. In «Vampyr» steht die Ausbeutung menschlicher Ressourcen, also der Arbeitskraft, im Zentrum. Wie hängen für dich diese unterschiedlichen Formen der Ausbeutung zusammen?

Für mich handelt es sich nicht um einen Perspektivwechsel, sondern um eine Fortsetzung. Es geht nicht nur darum, über die Ausbeutung menschlicher Ressourcen zu sprechen, sondern darum zu verstehen, dass alle Existenzen miteinander verflochten sind. Es gibt keine menschlichen Körper, die unabhängig von den anderen Körpern gedacht werden können. Das Leben ist verstrickt, symbiotisch. Wenn man versucht, den Anderen gedanklich «zu töten», um ihn ausbeuten zu können, schneidet man genau dieses vitale Geflecht durch. Deshalb funktionieren solche Kategorien nicht – weil sie die Realität nicht widerspiegeln.

Ich stelle die sprachliche und konzeptionelle Trennung von Ausbeutung menschlicher Ressourcen, gegenüber Ausbeutung der Natur infrage. Die Vampire in meinem Stück widersetzen sich solchen Kategorien – das Spannende an ihnen ist, dass sie verflochtene Existenzen repräsentieren. 

Wir haben das mit Covid erlebt, oder sehen diese Verstrickung auch etwa bei Mikroplastik, das sich in lebende Organismen sammelt. Wir sind wechselseitig abhängig. Und genau diese Verletzlichkeit, die daraus erwächst, mit anderen verbunden zu sein, empfinde ich als etwas Wertvolles.

In Chile verwenden wir häufig den Begriff «Zonas de sacrificio», also «Opferzonen», um Gebiete zu beschreiben, die durch Ausbeutung zerstört wurden und werden. Ich finde diesen Ausdruck sehr aussagekräftig, denn er macht deutlich, dass es Leben und Territorien gibt, die als entbehrlich betrachtet werden, um ökononische Entwicklung zu ermöglichen. Meine Stücke versuchen zu zeigen, dass diese Opferzonen bewohnt sind von dichten Konstellationen aus Leben, Tod und Ausbeutung.

In diesem Sinne ist der Vampir eine ideale Figur: ein Wesen aus vielen Teilen, das Ambivalenz verkörpert, eine unbestimmte Existenz. Wie es im Stück heißt: «teils tot, teils lebendig, teils Mensch, teils Tier, teils Erde.»

Manuela Infante: Vampyr | @Franco Barrios

In diesem Stück nimmt die Windenergie eine zentrale Rolle ein. Auf den ersten Blick scheint der Umstieg auf erneuerbare Energien eine Form der Emanzipation und eine weniger zerstörerische Alternative zu versprechen. Ist das tatsächlich so? Oder handelt es sich bei nachhaltigen Energiequellen nicht ebenfalls um neokoloniale Ausbeutungsprojekte?

Der Begriff der Nachhaltigkeit erscheint mir problematisch. Schon in der Formulierung selbst steckt eine Falle: «nachhaltig» – was genau soll da aufrechterhalten werden? Oft geht es nur darum, das bestehende System zu erhalten, das menschliche und nichtmenschliche Ressourcen erschöpft. Das wirkt eher wie ein Technologiewechsel in der Ausbeutung – und manchmal auch einfach wie ein Wechsel darin, wer wen ausbeutet.

In den Proben haben wir viel über Erschöpfung gesprochen. Nicht nur im energetischen Sinn, sondern auch im existenziellen. Was bedeutet es, erschöpft zu sein? Was ist Energie? Wie zirkuliert sie? Energie ist nicht bloss ein Rohstoff – sie ist auch eine Form der Verbindung, der Verflechtung. Und sie verdient eine Existenz, die über blosse Nützlichkeit hinausgeht. Im Stück gibt es eine Textstelle, die sagt: «Der Wind darf nicht mehr spielen, keine Kleider mehr heben oder Hüte wegpusten. » Er ist nun dazu verdammt, effizient zu sein. Mich interessiert diese Dimension des Energieaufwands, der nichts produziert, nichts nützt, sondern einfach nur geniesst.

Nachhaltigkeit – so wie sie heute formuliert wird – basiert auf einem engen Verständnis von Energie. Und sie stützt sich auf eine gefährliche Vorstellung: dass der Mensch den Planeten kaputt gemacht hat und ihn nun retten muss. Das verstärkt nur die menschliche Überlegenheit. Wir leben in einer Logik der Kompensation – denken wir nur an den Emissionshandel. Was für eine anmassende Vorstellung, zu glauben, wir könnten Energie und Ressourcen ausgleichen – als hätten wir einen Überblick über das planetare Gleichgewicht! Doch dieses grosse Gleichgewicht bleibt uns zutiefst fremd und rätselhaft. Wir sind eingebunden in ein weites ökologisches Geflecht – und sehen doch nur einen winzigen Ausschnitt davon. Wir müssen uns vom Kompensationsparadigma lösen und uns für die Anerkennung der Verletzlichkeit öffnen.

In deinen Stücken tritt auch immer wieder der Stein als zentrale Figur auf. Mich interessiert: Wie verstehst du das Nichtlebendige, das «Tote»? Was fasziniert dich am Stein – gerade als Theatermacherin, die mit Körper und Sprache arbeitet?

Für mich gehört das Nichtlebendige zum Leben dazu. Was beschreibt das Leben besser als der Tod? Leben ist genau das, was sterben kann. Die Unterscheidung zwischen dem Lebendigen und dem Nichtlebendigen erfüllt auch eine Funktion im System der Ausbeutung: Wenn ich behaupte, etwas sei nicht lebendig, kann ich es bedenkenlos benutzen oder zerstören. Aber der Tod ist ein Teil des Lebens. Im Stück gibt es eine Textzeile, die sagt: «Was könnte uns mehr die Lust am Leben nehmen als das ewige Leben?» Das Problem ist, dass wir in einer Fantasie vom «Verbrauch ohne Kosten» leben – das ist ein typisches Narrativ des Fortschritts, sogar des sogenannten grünen Fortschritts. Dem Toten wieder einen Wert zu geben heisst, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass jeder Aufwand einen Preis hat, dass jedes Leben Zerfall mit sich bringt. Und dieses Bewusstsein halte ich für grundlegend.

Ein besonders auffälliger Aspekt deines Stücks ist die Körperlichkeit der beiden Darsteller*innen. Wie arbeitest du mit ihnen? Wie entwickelst du diese so spezielle physische Sprache, diese Bewegungsästhetik?

Die Proben sind eine Art kollektive Erforschung des Umbestimmbaren und begann noch bevor der Text dazu kam. Ich wollte herausfinden, wie wir durch die Performativität und die Körperarbeit die Vorstellung von abgeschlossenen Entitäten, von festen Wesen, von Individuen als kohärente und definierte Subjekte unterwandern können. 

Wie lässt sich diese Vorstellung in Frage stellen – diese so rigide, so monokulturelle Idee, dass man mit sich selbst identisch sein müsse? Im Theater lernt man häufig, dass eine Figur möglichst konsistent sein, eine klare, stabile Identität besitzen soll. In diesem Projekt untersuche ich jedoch genau das Gegenteil: Wesen, die dieser Kohärenz trotzen, vielmehr durchlässig, offen, porös sind. Gemeinsam mit den Performer*innen haben wir intensiv erprobt, wie man diesem Zustand auf der Bühne begegnet.

Wir haben mit einem Konzept der peruanischen Anthropologin Marisol de la Cadena gearbeitet, das mir sehr gefällt, das Konuzpt des «nicht nur». Die Vorstellung, dass jedes Ding das ist, was es ist – und nicht nur das. Sie nennt das einen «negativen Hebel»: Wenn wir sagen, eine Tasse ist eine Tasse – und nicht nur, dann öffnen wir einen Raum, in dem sich feste Identitäten auflösen lassen. Mich interessiert die Verkörperung von Fragilität: das Gefühl, in einem Fluss zu treiben, verstrickt zu sein in etwas, das sich nicht kontrollieren lässt.

Mit den Performer*innen haben wir genau daran gearbeitet: Wie verkörpert man ein Tier – und nicht nur? Wie ist man ein Mensch – und nicht nur? Die daraus entstehende Körperlichkeit ist das Resultat eines ständigen Ausweichens/ Erweiterns gegenüber dem, was man gerade darstellt. Wenn wir beispielsweise die Körperlichkeit eines Tieres entwickeln, dann ist sie auch – ein wenig – die einer älteren Person. Aber eben nicht nur. Auch ein toter Körper schwingt in der Darstellung mit. Die Darsteller*innen spielen permanent mit diesen Ebenen und entziehen sich jeder eindeutigen, geschlossenen Lesart dessen, was sie repräsentieren.

Das schafft ein Körperbild in permanenter Veränderung, in Vibration, in Unbestimmtheit. Ein Körper, der nie ganz festgelegt ist. Die beiden Performer*innen begeben sich in eine sehr exponierte Position, denn die szenische Arbeit, die sie leisten, ist weder bequem noch vertraut. Diese Arbeit ist zutiefst performativ, denn sie findet im Hier und Jetzt jeder einzelnen Aufführung statt. Wir haben spezifische Techniken entwickelt, um diese Bewegung, dieses aktive Widerstreben gegen jede geschlossene Definition im Körper lebendig zu halten. 

Manuela Infante: Vampyr | @Franco Barrios

Das Stück ist ausserordentlich komisch. Welche Rolle spielt Humor in deiner Arbeit?

Für mich ist Humor keineswegs ein äusserlicher Anstrich, den man einem Thema aufträgt. Ich habe oft den Eindruck, dass viele Menschen ihn so verstehen – als ein Werkzeug, um schwierige oder komplexe Themen zugänglicher zu machen. Aber in meinem Fall liegt der Humor im Kern meiner Arbeit. Er ist der Ort, an dem die politische Kritik wohnt. Und ich glaube, das ist etwas sehr chilenisches. Dieser besonders zynische Humor ist für mich ein echtes Kulturgut unseres Landes.

Man denke nur an das Kino von Raúl Ruiz oder auch an viele zeitgenössische chilenische Comedians. Da ist etwas – vielleicht sogar ganz südamerikanisch –, das eine tiefe Bewusstheit des Grauens mit einer ebenso tiefen Lebensfreude verbindet. Und aus dieser Verbindung entsteht ein Humor, der zugleich dunkel und lebendig ist. Eine vitale Kraft, gepaart mit einer scharfsinnigen Kritik.

Im Grunde will ich sagen: Dieser Humor ist vielleicht das Chilenischste an unserer Arbeit – das, was am stärksten in unserem kulturellen Kontext verwurzelt ist. Und manchmal ist es genau dieser Humor, der ausserhalb Chiles beim Publikum für Verwirrung sorgt. Denn er stammt eben aus dieser spezifischen Lebensrealität. Es ist ein Humor des Überlebens, ein Humor, der aus der Wunde spricht – aber mit einem starken Drang zu leben, mit dem Willen, weiterzumachen. Im Probenprozess ist der Humor für mich wie ein Kompass: Wenn wir bei der Probe lachen, wissen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Und abschliessend: Was darf das Publikum in Zürich von «Vampyr» erwarten?

Das Publikum wird mit einer Art Infragestellung konfrontiert, mit einer Krise von Dingen, die wir oft als selbstverständlich hinnehmen – etwa die vermeintliche Sauberkeit und Positivität der sogenannten grünen Energie. Es gibt einen Text von Rosi Braidotti, den ich sehr schätze. Darin schreibt sie, dass die Klimakrise eine «Re-Homogenisierung» des «Wir» als Menschheit hervorgebracht hat. Und genau da ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen: Dieses «Wir», das angeblich gemeinsam in dieser Krise steckt, ist eben nicht homogen. Ich liebe diesen Satz von Braidotti: «Wir sitzen alle im selben Boot – aber wir sind nicht alle gleich.» Und genau das bringen wir auf die Bühne: eine Perspektive, die die vermeintliche Universalität dieses «Wir» kritisch hinterfragt – gerade in Bezug auf Energie.

Wie gesagt, das Stück ist voller Verstrickungen. Und genau das ist meine Absicht: Ich will nichts entwirren. Ich will verstricken. Denn in diesem Verstricktsein wird das Wesentliche sichtbar: die Interdependenz, die Körper, die an andere Körper gebunden sind, die Fragilität und Verwundbarkeit. 

«Vampyr» lädt dazu ein, vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie «saubere» Energie zu hinterfragen. Es zeigt auf, wie unsere historischen, materiellen und geografischen Bedingungen auch unsere Art beeinflussen, Krise zu erleben. Ich freue mich sehr darauf, dieses Stück in die Schweiz zu bringen. Ich habe bereits am Theater Basel mit dem Ensemble gearbeitet, aber diesmal reise ich mit meinem eigenen Team an – und mit einer Arbeit, die zutiefst chilenisch ist.

Vielen Dank für deine Zeit und für dieses spannende Gespräch! Wir freuen uns sehr, dich im August in Zürich begrüssen zu dürfen. 

 

Credits
Interview: Lea Loeb
Das Gespräch fand auf Spanisch statt.
Übersetzung ins Deutsche: Lea Loeb
Übersetzung ins Englische: Franziska Henner
Portraitfoto: Manuela Infante
Fotos aus «Vampyr»: Franco Barrios