Kapitalismuskritik ist alternativlos

Interview mit Nicoleta Esinencu

 

Die moldauische Regisseurin und Autorin Nicoleta Esinencu ist kein Mensch für den Mittelweg. In ihrer Theaterarbeit äussert sie explizite politische Kritik an bestehenden Verhältnissen und eine widerständige Solidarität mit den Arbeiter*innen und anderen Unterdrückten des kapitalistischen Erfolgsmodells. Ihre neue Arbeit «Sinfonie des Fortschritts» wird am diesjährigen Zürcher Theater Spektakel zu sehen sein. Der erste Teil der geplanten Trilogie über die Übel des Kapitalismus ist trotz der ernsten Thematik wahnsinnig witzig und unterhaltsam. Autor und Verleger Sascha Ehlert sprach mit Esinencu über moderne Ausbeutung, Soviet-Exotismus und die postkolonialen Strategien des Westens.


Sascha Ehlert: Was möchtest du für eine Geschichte mit deinem Stück «Sinfonie des Fortschritts» erzählen?

Nicoleta Esinencu: Ich arbeite zusammen mit dem Kollektiv Teatru-Spălătorie und unser Ziel ist es, die Erzählungen von Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa auf die Bühne zu bringen. Diese Menschen ertragen miserable Arbeitsbedingungen in westeuropäischen Ländern und werden fortlaufend im Namen des vermeintlich zivilisierten, fortschrittlichen und neoliberalen Westen ausgebeutet.

«Sinfonie des Fortschritts» dient als erstes Kapitel einer Trilogie. Der zweite Teil – ein Punk-Traum – war gerade im Berliner Hau Hebbel am Ufer zu sehen.

«Sinfonie des Fortschritts» ist laut, direkt und voller Musik. Dafür sind auch ganz besondere Werkzeuge und Objekte im Spiel. Kannst du uns etwas mehr darüber erzählen?

Viele der verwendeten Werkzeuge werden in China hergestellt. Zudem kommen einige ältere Werkzeuge aus der UdSSR zum Einsatz. Unsere Idee war es, sie zu rekonstruieren und wiederzubeleben. Wir haben mit zwei Elektrotechnikern – Iulian Lungu und Neonil Roșca – zusammengearbeitet, die sich der Herausforderung gestellt haben, die Werkzeuge neu zu erfinden. Was das Bühnenbild betrifft, so haben wir die von uns verwendeten Leuchten auf einem Flohmarkt gefunden. Wir haben sie von einem Ingenieur gekauft, der Gegenstände aus der Vergangenheit verkauft, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wir wollen nicht einfach Objekte auf die Bühne bringen; wir sind fasziniert von den Geschichten dahinter. Jedes Objekt birgt eine Geschichte.

Wir integrieren diese Gegenstände in unsere Aufführungen, weil sie einst Teil unseres Lebens, unserer Familien, unserer Erinnerungen waren. In den letzten 30 Jahren ist unsere jüngere Geschichte – die Erzählungen, Erfahrungen und das Wissen der Generation unserer Eltern – allmählich verschwunden. Es scheint ein bewusstes Bestreben zu geben, alles auszulöschen, was mit der Sowjetunion und dem Kommunismus in Verbindung gebracht wird. Indem wir nun diese Gegenstände wiederverwenden, möchten wir die damit verbundenen Geschichten teilen und dabei ein tieferes Verständnis für unsere Vergangenheit gewinnen.

Die Darsteller*innen tragen auf der Bühne alle Uniformen. Folgen diese Uniformen der gleichen Logik wie die der anderen Objekte auf der Bühne?

Die Uniformen, die unsere Performer*innen tragen, sind in Wirklichkeit recycelte Uniformen aus moldauischen Secondhandshops. Aber ich muss dich enttäuschen: Während Arbeiter*innenuniformen Menschen aus westlichen Ländern vielleicht exotisch erscheinen, tragen unsere Darsteller*innen die gleichen Uniformen wie Arbeiter*innen in Westeuropa. Man muss nur aus dem Fenster schauen, um sie zu sehen. Es kommt nur darauf an, ob man die Arbeiter*innen auf den Strassen, den Baustellen, vor deiner Haustür bemerkt oder nicht... Viele Menschen, die diese Uniformen tragen, kommen aus Osteuropa oder anderen nicht-westlichen Ländern.

 

1/3 Bringen Kapitalismuskritik lautstark und mit viel Humor auf die Bühne: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov performen die «Sinfonie des Fortschritts». © Ramin Mazur
2/3 Bringen Kapitalismuskritik lautstark und mit viel Humor auf die Bühne: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov performen die «Sinfonie des Fortschritts». © Ramin Mazur
3/3 Bringen Kapitalismuskritik lautstark und mit viel Humor auf die Bühne: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov performen die «Sinfonie des Fortschritts». © Ramin Mazur

Deine Arbeit ist eine klare und scharfe Kritik am westlichen Kapitalismus.

Mich verwirrt, dass die westlichen Gesellschaften die ganz offensichtliche Ausbeutung nicht offen kritisieren. Es scheint ein weniger bedeutendes Thema zu sein als die viel diskutierte «Spargelsaison». Alle scheinen vom Spargel besessen zu sein, aber niemand denkt darüber nach, wie er auf dem Teller landet. 

Es scheint, dass viele westliche Künstler*innen die Ausbeutung von Arbeitsmigrant*innen nicht als substantielles Thema betrachten. Das zeigt, wie Privilegien ausgenutzt werden. Die Ausbeutung von Menschen ist eine Folge des Kapitalismus, und wenn man nicht reagiert, macht man sich mitschuldig daran.

An wen richtest du dich mit dieser Kritik? Oder besser: Hast du mit ihr ein unmittelbares Ziel vor Augen?

Wir müssen uns gegen das System, die Ausbeutung, den Kapitalismus und das wachsende Wohlstandsgefälle wehren, von dem die Reichen profitieren, während die Armen ums Überleben kämpfen. Es scheint, dass wir nicht aus der jüngsten Geschichte Europas gelernt haben. Die «Dekolonialisierung» ist zu einem blossen Schlagwort geworden, dem keine wirklich sinnvollen Massnahmen folgen. Geflüchtete werden aus ihren Asylunterkünften vertrieben, nur um durch europäische, christliche und blauäugige Geflüchtete ersetzt zu werden. Geflüchtete Roma aus der Ukraine wird das Nötigste wie Nahrung, Wasser und Unterkunft verweigert, was den allgegenwärtigen Rassismus in den europäischen Strukturen offenbart.

Obwohl wir jahrelang für Abrüstung eingetreten sind, rüsten wir jetzt offen und schamlos auf. Der Begriff «Frieden» hat unter den gegenwärtigen Bedingungen seinen Wert verloren. Ich frage also: Ist dies die Welt, die wir uns vorgestellt haben und in der wir leben wollen?

Ist es deine Absicht, am diesjährigen Zürcher Theater Spektakel auch konkret auf ausbeuterische Arbeitspraktiken in der Schweiz aufmerksam zu machen?

Es geht vielmehr um die Unterscheidung zwischen Ost und West. Unsere unterschiedlichen Geschichten haben unsere Sichtweisen geprägt. Menschen werden ständig an den Rand gedrängt, und die Ausgrenzung wird institutionalisiert. Städte sind so angelegt, dass sie vor allem privilegierten, weissen Menschen Zugang gewähren, während andere dazu verdammt sind, ihnen zu dienen und ihre Häuser und Büros zu reinigen. 

Dieses Verhalten kann als koloniale Denkweise bezeichnet werden. Tatsächlich entmenschlicht der Westen Personen aus dem Nicht-Westen als «billige Arbeitskräfte», die ihre niederen Arbeiten ohne angemessene Entlohnung verrichten. Und die Moral der Geschichte: Der Westen hat sich selbst zu einem grossen Erfolg erklärt und suggeriert dabei, dass alle anderen gescheitert seien.

Nicoleta Esinencu und das Kollektiv Teatru-spălătorie zeigen das Stück «Sinfonie des Fortschritts» am Zürcher Theater Spektakel 2023.

 

Credits

Interview: Sascha Ehlert

Aus dem Englischen übersetzt