«Vorreiterin einer Bewegung zu sein, ist sehr einsam»

Interview mit Renata Carvalho

Renata Carvalho ist Travesti (1) und seit 22 Jahren Schauspielerin und Theaterregisseurin. Aus verschiedenen Blickwinkeln heraus untersucht sie die Überschneidungen von Travestilität, Repräsentativität und (De-)Marginalisierung von trans Körpern in gesellschaftlichen und künstlerischen Kontexten. Vom 26. bis 28.8. führt sie am Zürcher Theater Spektakel ihr «Manifesto Transpofágico» auf, das durch subtile Sichtbarmachung transphobischer und kolonialer Strukturen die Theatersprache selbst hinterfragt. Im Gespräch mit Jô Osbórnia – Dichterin und Dolmetscherin bei den deutschsprachigen Aufführungen von «Manifesto Transpofágico» –, spricht sie über die Gleichzeitigkeit von Angst und Respekt seitens ihres Publikums, über die Erfolge und andauernden Diskriminierungen von Travesti und trans Künstler*innen in den letzten Jahren nach der Pandemie und über die Recherchen, welche sie während ihrer Tourneen durchführt.

 

Jô Osbórnia:  Renata, «Manifesto Transpofágico» war auf Welttournee und wurde in berühmten Theaterhäusern wie dem Théâtre de la Ville in Paris und dem Teatrino di Palazzo Grasi in Venedig aufgeführt. Auf Instagram habe ich die brasilianischen Aufführungen verfolgt, die Säle waren immer brechend voll. Wie war bzw. ist es, «Manifesto Transpofágico» ins Ausland zu bringen bzw. mit deinem Werk durch Land und Welt zu reisen? Und in welchem Zeitraum hat sich das alles ergeben?

Renata Carvalho: «Manifesto Transpofágico» wurde vor der Pandemie konzipiert, aber hauptsächlich danach produziert. Es ist interessant, die historische Entwicklung zu beobachten, die diese pandemischen Jahre für die Repräsentativität von Travestis und trans Menschen bedeutet haben. In der Kunst ist man sich zum Beispiel bereits einig, dass die Darstellung unserer Körper durch cisgender Körper einfach inakzeptabel ist. Die Debatte wird also inzwischen geführt, aber es gibt immer noch einen Preis, den wir zu zahlen haben. Vorreiterin einer Bewegung zu sein, ist sehr einsam.

Und findest du beim Touren eine Art Heilung? Merkst Du, dass die Aufführung von  «Manifesto» Besserung bringt?

Ja und nein. Ich frage mich oft, wie ich mit all dem umgehen soll. Nachdem ich «Jesus» gemacht hatte, habe ich zum Beispiel endlos viele Todesdrohungen erhalten. Die Ereignisse meines Lebens werden letztendlich zur Grundlage meiner Kunst. Auf diese Weise heile ich. Als wir MONART – National Movement of Trans Artists in Italien gegründet haben, war meine Angst auf dem Höhepunkt – wissend, wie die Aufführungen von MONART-Künstler*innen in anderen Ländern gelaufen waren. Aber die Reaktionen des internationalen Publikums haben mich überrascht. Generell habe ich das Gefühl, dass sich die Diskussion in Europa immer um den Unterschied zwischen Travestis und trans Personen dreht. Ich erinnere mich daran, wie man in Frankreich versucht hat, uns davon zu überzeugen, dem brasilianischen Wort «Travesti» ein «e», also eine weibliche Bezeichnung, hinzuzufügen – eine europäische Art, das zu bereinigen, was stört. Andererseits haben die europäische Öffentlichkeit und das Interesse der grossen Häuser einen gewissen Rückhalt garantiert. Es ist, als ob ich aus dem Ausland die Legitimierung meiner eigenen Forschung bekommen würde.

Renata Carvalho bei einer Aufführung von Manifesto Transpofágico ©Danilo Galvao

Wie finden diese Legitimierungsprozesse statt? Und wie wirkt sich dein Kontakt mit europäischen Institutionen und Publikum aus?    

Ich habe den Eindruck, dass die Inklusion von Travestis und trans Personen in die europäische Kunst – obwohl problematisch – in den letzten Jahren recht schnell erfolgt ist. Als der Dokumentarfilm «Disclosure» 2020 von Netflix veröffentlicht wurde, sprachen mich viele Leute an: «Renata, das ist genau das, was du seit Jahren in Brasilien recherchierst: trans Fake und die Repräsentation von Travestis und trans Personen in den Medien und der Kunst!». Was von aussen kommt, legitimiert das, was von innen kommt – so funktionieren die Dynamiken dieser kolonialen Welt immer noch. Es liegt an uns, über die Kraft nachzudenken, die uns solch eine Legitimierung von aussen tatsächlich bringen kann. Mir persönlich wurde im Kontakt mit den europäischen Institutionen aber auch noch etwas anderes klar: Während ich in Brasilien eine gewisse weisse Auffälligkeit habe, werde ich hier in Europa zu einer sichtbaren Schwarzen Frau.

Wie wirkt sich diese Legitimierung und Rassifizierung konkret bei den Aufführungen von «Manifesto» aus?

Ich erlebe das gesamte Spektrum – von Respekt bis Angst: Einerseits respektiert mich die Öffentlichkeit immer mehr, da die Debatte in den letzten Jahren fundierter und meine Arbeit bekannter geworden ist. Die Leute verstehen, wie wichtig meine Forschung als Transpologin ist. Der Respekt kommt auch daher, dass ich eine öffentliche Person geworden bin. Heute bin ich diejenige Travesti, deren Meinung zählt, diejenige Travesti, die konsumiert wird, diejenige Travesti, der zugehört wird. Das hat Gewicht. Auf der anderen Seite bleibt die Angst immer latent. In Europa ist die Transphobie verschleiert, institutionell und dazu kommen bei einer migrantischen Travesti auch noch viele andere Dinge: der Verlust der Heimat, das Wissen um die Unmöglichkeit einer Rückkehr, die Einsamkeit im Ausland. In Brasilien ist die Angst viel unmittelbarer: Es geht um die Angst, ermordet zu werden, wenn man auf die Strasse geht. Das «Manifesto» konzentriert sich auf die Eingeweide, auf die Strukturen dieser Transphobie – und zwar auf eine sehr gezielte Weise.

Kannst du deine Strategie genauer erläutern?

Vielleicht kann man das am ehesten mit den diskursiven Strategien des Widerstands der  brasilianischen Schriftstellerin und Dichterin Conceição Evaristo erklären, denn es war der Schwarze Feminismus, der mir die Notwendigkeit des Benennens vor Augen führte: Die Unterdrückung zu benennen, die Logik der Angst zu benennen; kurz, das Unausgesprochene, das Verschleierte, das Tabu zu benennen. Roland Barthes spricht auch vom «Faschismus in der Sprache» und wie wir ihm durch den Akt der Umbenennung entgegentreten können. Das «Manifesto» geht von dieser Annahme aus und agiert strategisch in der Sprache des Theaters und der Performance selbst.

Ich glaube, dass der Erfolg dieses Werkes in der Symbolik der Sprache und in der Suche nach ihrem eigenen Bruch liegt. Beide Akte des Stücks sind einander radikal entgegengestellt. Im ersten Akt ist die gesamte Inszenierung eher klassisch und angenehm: Das Licht ist schwach und nur punktuell eingesetzt, die Frequenzen und Töne sind so gewählt, dass sie die Zuhörer*innen nicht stören. Im zweiten Akt gibt es dann einen Bruch: Der Vorhang öffnet sich und ich beginne halbnackt einen Dialog mit dem Publikum zu führen. Was vorher theatralisch und akribisch kalkuliert war, wird nun aufgehoben. Das Sorgfältige und Angenehme verwandelt sich in das Gebrochene und Unbequeme, was wiederum die Interaktion mit dem Publikum einleitet und begründet.

Während deiner Tournee setzt du deine Recherchen stetig fort und besuchst andere  migrantische Travestis. Was nimmst du aus diesen Begegnungen mit?

Die internationalen Auftritte haben es mir ermöglicht, Travestis in Europa besser kennenzulernen. Die Diaspora brasilianischer Travestis auf der Suche nach humaneren Lebensbedingungen und besser bezahlten Jobs ist seit Jahrzehnten Realität. Portugal, Italien, Frankreich und die Schweiz sind die Hauptländer dieses Exodus. Ich habe mich sehr gefreut, die «Tietas»(2) Europas persönlich zu treffen, wie Camile Cabral neben vielen anderen. Ich freue mich auch sehr, jetzt nach Portugal zu reisen und mit Keyla Brasil in Kontakt zu treten, die kürzlich eine mutige Aktion gegen die Transfake-Problematik durchgeführt hat. Dieser Dialog lässt mich nicht nur die Einsamkeit der migrantischen Travestis thematisieren, von denen viele nicht einmal richtig Portugiesisch lernen und einfach nirgendwo hingehen können. Sondern er lässt mich auch die Stärke erkennen, die sie haben.

Renata Carvalho im Gespräch mit dem Publikum bei Manifesto Transpofágio @Carol Kappaun
Renata Carvalho im Gespräch mit dem Publikum bei «Manifesto Transpofágico» © Carol Kappaun

Stehst du denn auch mit zeitgenössischen Travestis wie Jota Mombaça und Castiel Vitorino Brasileiro im Austausch, die im Ausland ähnliche Wege gegangen sind wie du.

Ja, die internationale Anerkennung bildet die Grundlage für die Entwicklung unserer Arbeit, es ist wie der Mechanismus, den ich oben beschrieben habe: Jota und Castiel sind anerkannt worden und haben Institutionen besetzt, in denen vorher keine Travesti sein durften. Der Dialog findet auch an dieser Front statt. Es ist, als wäre unsere Diaspora jetzt auch künstlerisch geworden. Im Gegensatz zu den ersten Generationen aus den 1970er und 1980er Jahren gibt es heute unzählige Travestis, die auf der Suche nach anderen Möglichkeiten als der Prostitution nach Europa fliehen, viele sogar mit einem Abschluss oder der Aussicht auf eine höhere Ausbildung. Das hat natürlich mit Klassen- und Zugangsfragen zu tun, aber es ist dennoch bemerkenswert, wie viele von uns in den letzten fünf Jahren zum ersten Mal in renommierten europäischen Kunsträumen angekommen sind. Das durchbricht nicht nur die Matrix des transphobischen kolonialen Denkens, sondern auch die sehr selektive Logik der Repräsentation. Wenn ich eine Kunstinstitution verlasse, frage ich immer: Wer ist die Nächste?

Das erinnert mich an die ermordete Politikerin und Journalistin Marielle Franco  und ihren bekannten Satz «Die eine steigt auf und nimmt die anderen mit».

Tatsächlich. Wenn die Kunst tatsächlich eine Transformationskraft hat – gerade weil sie die Interaktion von Selbst und Anderem aktiviert – dann muss sie auch die Verantwortung tragen, die Grundlagen ihrer eigenen Strukturen ins Visier nehmen und einen kollektiven und dauerhaften Zugang schaffen. Das ist wichtig, um Tokenismus zu vermeiden, aber auch, damit ein Ausgleich geschaffen werden kann zwischen der Angst und dem Respekt, über die wir vorher gesprochen haben – und endlich ein Gegenentwurf zur Einsamkeit!

 

(1) Der Begriff «Travesti» wird in Lateinamerika für Menschen verwendet, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeschrieben wurde, die aber eine weibliche Geschlechtsidentität entwickeln.

(2) Referenz zur Figur «Tieta do Agreste» des berühmten Schriftstellers Jorge Amado.

Credits
Interview: Jô Osbornia