«Wenn ich mit Tänzer*innen arbeite, fordere ich sie auf, sich selbst zu ermächtigen»
Interview mit Robyn Orlin
Tanz kann uns mitreissen und berauschen, aber auch zum Nachdenken anregen und neue soziale Beziehungen schaffen. Die südafrikanische Tänzerin und Choreografin Robyn Orlin durchdringt in ihren Arbeiten das Unbehagen, indem sie die Apartheid in Südafrika und Kindheitserinnerungen verarbeitet. Ihr neues Stück «we wear our wheels with pride and slap your streets with color … we said «bonjour» to satan in 1820 …» wird am diesjährigen Theater Spektakel aufgeführt. Die Historikerin und Autorin Edna Bonhomme sprach mit Orlin über ihre lange und erfolgreiche Karriere, über ihre Arbeit unter der Apartheid und über die Bedeutung von Heilung.
Edna Bonhomme: Du bist in Südafrika aufgewachsen. Kannst du mir etwas über deine Kindheit erzählen und wie es war, in diesem Land aufzuwachsen?
Robyn Orlin: Ich wurde 1955 geboren und wuchs während der Apartheid auf. Ich stamme aus einer jüdischen Familie. Meine Familie flüchtete zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg aus Litauen und Polen. Ich bin also Südafrikanerin der ersten Generation. Jüdische Menschen wurden damals weder von den Brit*innen noch von den Niederländer*innen akzeptiert, und ich kann mich daran erinnern, wie ich als Kind mit meiner Familie an einem Golfplatz vorbeifuhr und ein Schild las, auf dem stand: «NO DOGS, AFRICANS, OR JEWS». Meine Eltern sprachen viel über Politik, ich war schon in jungen Jahren gut informiert. Ich bin nie auf eine Privatschule gegangen oder etwas Ähnliches. Meine Vorfahren waren Landwirt*innen in Litauen und politisch eher links eingestellt. Meine Mutter war eine Tänzerin; sie war Balletttänzerin, aber sie wurde nie in ein Ensemble aufgenommen, weil sie zu gross war. Also fing sie an, Modern Dance zu tanzen. Durch sie fand ich zum Tanz.
Was hat dich sonst noch inspiriert – abgesehen von deiner Mutter?
Irgendwann beschloss ich, mich ernsthaft mit Tanz zu beschäftigen. Ich erhielt ein Stipendium für ein Studium an der London School of Contemporary Dance. Ich habe mich aber nie wirklich an das Leben in Grossbritannien gewöhnt und kehrte nach meinem Abschluss Anfang der achtziger Jahre nach Südafrika zurück. Nach meiner Rückkehr gab es nur in den weissen Communitys Platz für klassisches Ballett, und ich hatte kein besonderes Interesse an dieser Ästhetik. Ich begann in der Innenstadt von Johannesburg mit der Federated Union of Black Artists und dem Market Theatre zu arbeiten. Beide Organisationen waren zu der Zeit politisch sehr engagiert. Mein wichtigster Mentor war Barney Simon, der verstorbene künstlerische Leiter des Market Theatre – er war sowohl politisch als auch konzeptionell wegweisend für mich. Simon arbeitete mit Elementen des Storytellings als Mittel, um ein südafrikanisches Vokabular zu finden. Von ihm lernte ich, mich von allem, was mich umgab, inspirieren zu lassen, tief in das Material einzudringen und in meinen Arbeiten mit so wenig Mitteln wie möglich Sinn und Magie zu finden.
Welche philosophischen Traditionen und Kollaborationen prägen oder inspirieren deine Vision und choreografische Praxis?
In den späten achtziger Jahren entdeckte ich ein Buch der senegalesischen Tänzerin, Choreografin und «Mutter des afrikanischen Tanzes» Germaine Acogny, das mich sehr inspirierte. Es wurde für mich zum Überlebenspaket und eine Art Bibel, um tiefer zu graben. Das Buch heisst «African Dance» und verlagert die Geschichte des Tanzes nach Afrika, weg vom europäischen Blick. Es bietet auf vielen Ebenen eine fluidere afrikanische Identität und eröffnet künstlerische Strategien, die für eine afrikanische Denk- und Bewegungsweise zugänglicher sind.
Am Theater Spektakel zeigst du deine neueste Arbeit «we wear our wheels with pride and slap your streets with color … we said «bonjour» to satan in 1820 …», eine Kollaboration mit der Company Moving into Dance Mophatong. Das Stück beginnt mit einem Dialog und besteht unter anderem aus ausgedehnten, musikalischen Wechsel und Modulationen. Der Körper ist mit Sprache gefüllt. Kannst du mehr über das Stück und seine Entstehung erzählen?
Ich habe mich mit meinen Werken auf eine Reise begeben: Meine Kindheitserinnerungen sind ein fester Bestandteil und Inspirationsquelle für meine Arbeit geworden. Wir beginnen das Stück damit, einen Weg zu finden, mit unseren Vorfahr*innen in Kontakt zu treten, und beenden es damit, ihnen für ihre Geduld und ihre Akzeptanz uns gegenüber zu danken. Klang, Bewegungsvokabular und Text treiben das Stück voran. Die Rikschas haben eine lange Geschichte in Südafrika, sie gehen zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie wurden von versklavten Menschen gefahren und zum Transport der Kolonisatoren und ihrer Waren eingesetzt. In der Zulu-Sprache heissen sie «Hashishi», was «Pferd» bedeutet. Später, als Autos und Lastwagen aufkamen, verloren sie ihren Nutzen und wurden zu einem «Urlaubserlebnis» für weisse Tourist*innen an der Strandpromenade von Durban (KwaZulu Natal). Die Rikschafahrer*innen behielten ihre Tradition der farbenfrohen Kostüme und des Wettbewerbs untereinander bei, nur um dann zu Sklaven einer anderen Wirtschaft zu werden. Es gibt sie bis heute, nur nicht mehr auf demselben Niveau wie zu Zeiten der Apartheid. Weltweit sind die meisten Rikschas auf Fahrräder und Motorroller umgestiegen, doch in Südafrika war das nicht der Fall.
Es war mir wichtig, die Klänge wiederzugeben, die ich als Kind hörte – was ich damals sah, hielt ich zunächst für fliegende Engel. Die Musiker*innen und Tänzer*innen versuchten diese Gefühle nachzuempfinden und in das Stück zu integrieren – obwohl sie zu jung sind, um sie mit eigenen Augen und Ohren erlebt zu haben. Klang und Bewegung werden in Echtzeit erzeugt, wobei alles gleichzeitig geloopt wird, um die Dringlichkeit, die Schönheit und den Schmerz im Raum zu erzeugen und uns zu ermöglichen, diesen «unbesungenen Helden» Tribut zu zollen.
«we wear our wheels with pride [...]» ist eine Zusammenarbeit mit der südafrikanischen Tanzgruppe Moving Into Dance Mophatong. Was ist die Geschichte der Kompagnie; wann und wo wurde sie gegründet?
Moving into Dance Mophatong wurde 1978 während der Apartheid in Südafrika gegründet. Es war eine künstlerische Antwort auf die zerstörerische Trennungspolitik der Zeit. Die Vision war, die kreative Fähigkeit des menschlichen Geistes zu nutzen, um zu verbinden, zu beleben und zu überwinden. Tanz als Gegenmittel zur Spaltung. Heute setzt die Kompagnie ihre Arbeit mit Afrofusion Dance fort. Einer ihrer Grundsätze ist die Förderung einer Gemeinschaft als Menschen und Afrikaner*innen. Ausserdem legt die Organisation Wert auf soziale Gerechtigkeit und versucht, Hoffnung zu vermitteln.
In welcher Beziehung stehst du zu dieser Gruppe und wie kam es zu eurer Zusammenarbeit?
Ich arbeite schon seit langer Zeit immer wieder mit der Gruppe zusammen. Sowohl als Choreografin als auch als Mentorin. Die Gründerin des Ensembles, Sylvia Glasser, war eine meiner Lehrerinnen als ich jünger war, und ich habe grossen Respekt vor ihrer Arbeit, der jungen Generation von Tänzer*innen in Südafrika eine Plattform zu bieten.
Was soll das Publikum aus «we wear our wheels with pride [...]» mitnehmen?
Ich hoffe, dass das Publikum bereit ist, sich mit den Performer*innen auf eine Reise zu begeben und sie dabei zu begleiten, ihren Vorfahren zu danken und den Rikschas zu huldigen.
Denn: Wir dürfen nicht vergessen. Und wir müssen Wege finden, wie wir heilen können.
Welche Rolle spielt das Publikum in deinen Tanzstücken? Und gibt es in Westeuropa eine andere Rezeption als in den südlichen Regionen Afrikas? Wenn ja, inwiefern?
Das Publikum spielt in meiner Arbeit immer eine wichtige Rolle. Partizipation wird als Mittel eingesetzt, um die Zuschauer*innen in das Stück einzubeziehen, Teil der Aufführung zu sein und schliesslich die Barriere zwischen Publikum und Performance zu durchbrechen. Die Reaktionen in Europa und Südafrika sind schon unterschiedlich: Mein Publikum in Südafrika ist diverser, was in Westeuropa oder Nordamerika nicht so sehr der Fall ist. Das ist leider momentan die Realität der Welt.
Robyn Orlin & Moving Into Dance Mophatong präsentieren ihre Arbeit «we wear our wheels with pride and slap your streets with color … we said «bonjour» to satan in 1820 …» am Zürcher Theater Spektakel 2023.
Credits
Interview: Edna Bonhomme
Aus dem Englischen übersetzt
Die Arbeiten der in Berlin lebenden Wissenschaftshistorikerin und Schriftstellerin Edna Bonhomme sind unter anderem im The Atlantic, Esquire, The Guardian, The Nation und der London Review of Books erschienen.