Tiziano Cruz (hier rechts im Bild) kommt schon zum zweiten Mal zum Zürcher Theater Spektakel.

«Theater sollte ein Menschenrecht sein»

 

Nachdem er bereits 2022 mit «Soliloquy» am Zürcher Theater Spektakel das Publikum begeisterte, kommt Tiziano Cruz nun mit seinem neusten Stück «Wayqeycuna» zurück in die Schweiz. Die Arbeiten des in Buenos Aires lebenden, interdisziplinären Künstlers führen visuelle und theatralische Sprache, Performance und künstlerische Intervention im öffentlichen Raum zusammen. Tiziano war Stipendiat des Fondo Nacional de las Artes und des Instituto Nacional del Teatro ARG. Er war Gewinner der Bienal de Arte Joven 2019 und Gewinner des ANTI-Preises, Finnland, 2023. Er ist der Gründer der Kulturmanagement-Plattform ULMUS, die sich der Vermittlung zwischen verschiedenen kulturellen Organisationen in Argentinien und den Nachbarländern widmet. Als Content Producer hat er am Centro Cultural Recoleta in Buenos Aires gearbeitet. Seine Arbeiten waren auf Tournee in Chile, Brasilien, Mexiko, Kanada, Portugal, Spanien, der Schweiz, Deutschland, Finnland und den USA. Unsere Kuratorin Lea Loeb hat mit Tiziano Cruz ein Interview geführt, um sich über «Wayqeycuna» zu unterhalten.

 

«Soliloquy» von Tiziano Cruz feierte 2022 Europapremiere am Zürcher Theater Spektakel

 

Tiziano, vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, dieses Interview mit mir zu führen. Wir freuen uns sehr, dass du dein neues Stück  «Wayqeycuna» diesen August in Zürich präsentieren wirst. Dein letztes Stück «Soliloquio» wurde vor zwei Jahren beim Theater Spektakel gezeigt, es war die erste Präsentation Deiner Arbeit in Europa.

Ja, «Soliloquio» war das Werk, mit dem ich meine künstlerische Arbeit internationalisiert habe. Nun komme ich mit meiner neuesten Arbeit zurück nach Zürich. «Wayqeycuna» ist Teil einer Trilogie autobiografischer Werke, die ich seit 2015 zu entwickeln begann.

In welcher Beziehung steht dieses Stück zu den anderen beiden Teilen der Trilogie «Drei Wege, den Berg zu besingen»?

Das erste Stück war meinem Vater gewidmet. Es hiess «Adiós Matepac» und war ein Essay über die Erinnerung an den Abschied. Das zweite Stück, «Soliloquy», ist meiner Mutter gewidmet. «Wayqeycuna» habe ich für meine Geschwister gemacht. Jedes dieser drei Stücke folgt in seinem Aufbau einem Gesang. Die drei Arbeiten sind durch einen roten Faden miteinander verbunden, dem Tod meiner Schwester 2015. Sie starb mit 18 Jahren in einem Krankenhaus im Norden von Argentinien an den Komplikationen einer Geburt. Die medizinische Hilfe wurde ihr aufgrund ihrer Herkunft versagt. Dieser Tod ist nicht nur ein tragisches Ereignis für meine Familie, er ist auch ein kollektives Ereignis. Denn in Argentinien haben nicht alle Körper denselben Wert. In meiner Arbeit spreche ich über den strukturellen Rassismus, die Neokolonisierung und die Fremdenfeindlichkeit, die in diesem Land herrscht. Der Fall meiner Schwester ist kein Einzelfall, sondern etwas immer Wiederkehrendes, das sich in Hunderten von Gemeinschaften hier in meiner Herkunftsregion abspielt. Alle drei Stücke meiner Trilogie behandeln diese lebensbedrohende, strukturelle Ungleichheit aus unterschiedlichen Perspektiven. Ausserdem ziehen sich gemeinschaftliche Bräuche und indigene Philosophien durch alle Teile der Trilogie.

Szene aus dem Stück «Soliloquy» im Jahr 2022

 

Was bedeutet der Titel «Wayqeycuna»?

«Wayqeycuna» ist ein Wort, das aus der Quechua-Sprache stammt. Es bedeutet «meine Brüder und Schwestern» und steht im Kontrast zu den beiden anderen Stücken, deren Titel sich auf den Westen beziehen. «Matepac» ist die griechische Entsprechung des Wortes «Vater». «Soliloquy» bedeutet «Monolog», der Begriff stammt aus der aristotelischen Theatertheorie und bezeichnet jemanden, der oder die mit sich selbst spricht und gleichzeitig eine Reflexion mit der Welt teilt. Für mich war klar, dass der letzte Teil der Trilogie einen Titel aus meiner eigenen Sprache tragen muss. Ich verstehe meine Theaterarbeit als Kritik an der Westlichen Kunst und der aristotelischen Theaterstruktur. Sie ermöglicht es, mich zu lösen und zum Ursprung zurückzukehren. In gewisser Weise ist «Weyceycuna» eine Rückkehr zu meinen Wurzeln. Ich habe meine Muttersprache gewählt, um das zu benennen, was, wenn es nicht benannt wird, nicht existiert.

In den indigenen Sprachen bedeutet ein Wort nicht nur ein Wort, sondern es ist wie ein Satz. «Wayqeycuna» bedeutet nicht einfach «Brüder und Schwestern», sondern «MEINE Brüder und Schwestern», was viel umfassender ist und sich nicht nur auf meine Blutsbrüder und -schwestern bezieht, sondern auch auf meine Brüder und Schwestern in den Gemeinschaften. Meine Beziehung zu ihnen steht im Zentrum.

In diesem dritten Teil der Trilogie geht es um den Tod und insbesondere um die Trauerrituale, die in deiner Herkunftsregion zelebriert werden. Kannst du mir mehr darüber erzählen?

«Wayqeycuna» markiert den Abschluss einer fast 8 Jahre dauernden Recherche, die mit dem Tod meiner Schwester begonnen hatte. Im Laufe dieser Arbeit habe ich verstanden, dass die Trauer nicht aufhören, dass sie nie enden wird. Im Gegensatz zu den westlichen Kulturen verstehe ich das Leben nicht als einen linearen Prozess, bei dem man geboren wird, sich entwickelt und dann stirbt. Indigene Kulturen haben eine andere Vorstellung von Leben und Tod, nämlich als Zyklus, bei dem wir in gewisser Weise kommen und gehen und auf unterschiedliche Weise präsent sind. Tatsächlich erlaubt dieses Verständnis einen anderen, sanfteren Trauerprozess. Auch das möchte ich durch dieses Stück mit dem Publikum teilen.

Kannst Du das noch etwas genauer erläutern?

In den westlichen Kulturen bedeutet der Tod das Ende. Und die Hinterbliebenen kommen oft nicht über Trauer, Schmerz und Kummer hinweg. In unseren indigenen Kulturen ist das anders. Das Ende des irdischen Lebens bedeutet auch Freude. Wir glauben, dass ein Mensch, wenn er diese irdische Ebene verlässt, in die so genannte «Pacarina» eintritt. Die Pacarina ist ein Ort, an dem die Seelen ruhen, von dort aus kommen sie auf die irdische Ebene und gehen auch wieder. Erst vor wenigen Wochen, am 3. Mai, wurde der Tag der Chacana gefeiert. Die Chacana ist eine kosmische Brücke, die jedes Jahr in unserem indigenen Kalender die beiden Welten miteinander verbindet. Alle Menschen, die sterben – meine Mutter und meine Schwester – werden zu Ahnen, die uns helfen, uns auf unserem Weg zu leiten, damit wir in der Lage sind, auf kollektive und gemeinschaftliche Weise durchs Leben zu gehen. Ich denke, das ist eine der grossen Weisheiten unserer Kultur. Denn nun begleiten uns diese Verstorbenen ein Leben lang, bis wir auch zu Ahnen werden und zu Begleitern für andere Menschen werden, die nach uns kommen werden. Das gibt uns Seelenfrieden im Umgang mit dem Verschwinden von geliebten Körpern. Und ich spreche vor allem über das gewaltsame Verschwinden unserer Körper hier in Argentinien, mit dem wir indigenen Kulturen ständig konfrontiert sind. Meine Mutter, die in diesem März, am Tag nach der Premiere von «Wayqeycuna» nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben ist, ist auch ein Opfer des argentinischen Gesundheitssystems. Denn bis heute, zwei Monate nach ihrem Tod, sind die Krebsmedikamente, die sie so dringend gebraucht hätte, noch nicht eingetroffen. Es ist eine Tatsache, dass es einige Körper in Argentinien viel mehr wert sind als andere.

Von all dem handelt dieses Stück. Es ist einerseits ist ein poetischer und sehr persönlicher Abend, andererseits ist es ein dokumentarisches Stück. Ich zeige, wie es ist, in dem Gebiet zu leben, aus dem ich komme, einem Dorf in den Bergen, das von allen grossen Hauptstädten und den grossen technologischen Fortschritten abgeschnitten ist. In der Arbeit zeige ich ein Video von einem Besuch in meiner Gemeinschaft. Es ist Gemeinschaft voller Paradoxien, in die der Triumph des Kolonialismus genauso eingeschrieben ist, wie der ewige Widerstand.

«Soliloquy» ist der zweite Teil einer Familien-Trilogie

 

In «Wayqeycuna» gibt es ein Video, das eine Prozession zeigt, bei der die Bewohner*innen deines Dorfes eine Jungfrau auf den Berg bringen. Welche Rolle spielt das Christentum in deiner Gemeinschaft?

Die Aufnahmen zeigen eine Prozession oder einen «Misachico», wie wir es in unserer Kultur nennen. In der Tat wird eine Jungfrau auf den Schultern der Dorfgemeinschaft auf den Berg getragen. Bevor diese Praxis sich durchgesetzt hat, kannten unsere indigenen Kulturen verwandte Praktiken. Auch dort gab es Prozessionen, aber es wurde nicht die Statue einer katholischen Jungfrau getragen, sondern die mumifizierten Körper der Verstorbenen unseres Volkes, die in die Pacarina übergegangen waren. Ende Oktober und Anfang November, in der Woche der Toten in ganz Lateinamerika, wurden jeweils die weltlichen Überreste ausgegraben. Jede Gemeinde hatte ihre eigenen Vorfahren, die auf den Schultern oder auf dem Rücken durch die Nachbargemeinden getragen wurden. Das war ein grosses Fest zu Ehren der verstorbenen Personen, die aus der Pacarina zurückgerufen wurden, um die Gemeinschaft durch das kommende Jahr zu führen. Mit der Ankunft der Spanier, insbesondere der Jesuiten, die unser Gebiet gewaltvoll einnahmen, wurde ein Gesetz erlassen, das die Exhumierung der «Indianer» – wie sie uns damals nannten – verbot und uns verpflichtete, die auf Schragen getragenen Körper durch katholische Heilige oder Jungfrauen zu ersetzen. Dieser Brauch hat Einzug gehalten in die indigenen Gemeinschaften.

Das Ritual ist also eine Mischung, aus einem indigenen Ritual und einem von den Kolonisatoren und Missionaren eingeführten Brauch?

Meine Gemeinschaft, genau wie andere indigene Gemeinschaften, haben Wege gefunden, die Reinkarnation unserer Vorfahren weiterhin zu feiern und mit ihnen in Verbindung zu bleiben. Wir mussten in bestimmten Punkten Kompromisse eingehen, um nicht alle unsere Traditionen zu verlieren: Da wir unsere Brüder und Vorfahren nicht mehr ausgraben konnten, haben wir sie durch Brotfiguren ersetzt. Das sind dieselben Brotfiguren, die in dem Stück «Wayqeycuna» vorkommen. Diese Figuren aus Brot spielen eine wichtige Rolle in unserer Gemeinschaft. Sie verkörpern die Person, die uns verlassen hat, oder stellen die Umgebung, sie stehen auch für die Blumen Flora oder die Fauna, dar, in der diese Person wiedergeboren werden soll. Die Brotfiguren werden von der Gemeinschaft gebacken, als Opfergaben in der Woche der Toten,  zum Gedenken an die geliebten Verstorbenen. Unsere indigenen Gemeinschaften haben im Laufe der Geschichte viele Wege des Widerstands gefunden, um unsere eigenen Traditionen bewahren zu können.

Das Stück «Wayqeycuna» hat für mich zwei Ebenen: Einerseits lädt es das Publikum ein, unsere indigenen Kulturen etwas besser kennenzulernen und für die Dauer des Stücks Teil einer Gemeinschaft zu werden. Es schlägt eine Welt vor, in der wir alle mehr zusammenarbeiten, in der wir uns alle als Teil eines gemeinsamen Ganzen verstehen können. Auf der anderen Seite ist das Stück sehr politisch. Es problematisiert und prangert Ungleichheiten an und nimmt uns alle in die Verantwortung, gemeinsam an deren Beseitigung zu arbeiten.

 

 

Die meisten argentinischen Künstler*innen, die international bekannt sind und z. B. zu den grossen europäischen Festivals in Europa reisen, sind weiss. Wie ist es für dich, um die Welt zu reisen mit deinen Stücken und dabei ein «anderes» Argentinien zu verkörpern?

Nun, zunächst einmal fühle ich mich unbestreitbar in einer grossen Verantwortung. Ich bin vermutlich tatsächlich der erste indigene Künstler ­– zumindest in Argentinien – der so viel herumkommt und diese internationale Sichtbarkeit hat. Ich glaube, dass es meine Pflicht ist, weitere Türen zu öffnen, so dass der wirtschaftliche und symbolische Nutzen nicht nur mir, Tiziano Cruz, zugutekommt. Sondern dass ich als Künstler, als der indigene Mensch, der ich bin, wirklich einen Beitrag für andere Künstler*innen und Kollektive leisten kann. Das scheint mir die grosse Herausforderung zu sein, und genau das versuche ich mit meiner Arbeit «Wayqeycuna» zu tun. Ich versuche mit diesem Stück auch Vertreter*innen anderer marginalisierter Gemeinschaften weltweit zu empowern.

Wenn man von Argentinien spricht, denken viele automatisch an Buenos Aires. In der Tat ist Argentinien aber ein äusserst komplexes Land, das durch die politische, ökonomische und kulturelle Zentralisierung nicht angemessen repräsentiert wird. Nicht alles läuft über Buenos Aires. Meine Anwesenheit bei diesen grossen, internationalen Festivals steht symbolisch für diese Gegenerzählung, für die Anerkennung und Komplexität von Identitäten, sie zelebriert die Dezentralisierung. In Argentinien gibt es, wie überall sonst auch, periphere Zentren, in denen Menschen, Künstler*innen, akademische und nicht-akademische Denker*innen leben, die wichtige Beiträge leisten und die es ebenso verdient haben, gehört zu werden. Dies aufzuzeigen, ist für mich die grosse Aufgabe und der Antrieb für meine Arbeit.

Stellst du eine Veränderung in Bezug auf diesen Diskurs in der Kunstwelt fest?

Das Thema Indigenismus ist ein Thema, das seit langem auf der globalen Agenda steht. Es wurde schon immer über uns gesprochen. Es gab schon immer grosse Regisseur*innen, Künstler*innen und Denker*innen, die darüber gesprochen haben, wie wir sind, wie wir uns fühlen, wie wir leben und was unsere Bedürfnisse sind. Jetzt ist es zum ersten Mal möglich, aus erster Hand zu sagen, was unsere Bedürfnisse sind. Für uns indigene Künstler*innen ist das ein grosser Schritt nach vorne. Nun liegt es auch in unserer Verantwortung, diese Türen für andere Gemeinschaften und andere Künstler*innen zu öffnen.

Es gehtIch kann nicht genug betonen, dass es nicht um Viktimisierung geht. Es geht darum, Realitäten zu thematisieren, sie zu problematisieren und gemeinsame Ansätze vorzuschlagen, um die bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen. Mein persönliches Ziel ist, dass wir nicht für immer über gewaltvollen Extraktivismus von natürlichen Ressourcen oder über Kinder-Sklaverei sprechen müssen. Sondern dass wir in unserer Kunst auch über andere Dinge sprechen können. Zum Beispiel über die Bedeutung des Himmels, der Erde, des Wassers, auf eine schönere Art und Weise. Aber heute ist es dringend nötig, all diese Dinge anzuprangern oder auf die Tagesordnung zu setzen, mit denen wir indigenen Gemeinschaften tagtäglich konfrontiert sind. Nicht nur in Argentinien, sondern auf der ganzen Welt.

Was bedeutet das Theater für Dich?

Für mich ist Theater eine bürgerliche Praxis, eine Praxis der oberen Mittelschicht. Es ist eine Kunst, die für wenige gemacht ist. Darum ist es ein revolutionärer Akt, dass ich mich dem Theatermachen widme. Weil ich eine Person bin, die aus der Peripherie stammt, die aus einer armen, indigenen Familie stammt und die homosexuell ist. All diese Eigenschaften machen mich aus und haben es gleichzeitig lange undenkbar gemacht, dass ich in der Welt des Theaters überhaupt vorkommen kann. Das Theater muss sich öffnen und wirklich eine Kultur für alle werden, wie ich in meinen Arbeiten fordere. Theater sollte – wie Wasser – ein Menschenrecht sein, alle Erscheinungsformen der Kunst sollten das sein können.

Ich habe beschlossen, mich voll und ganz dieser Aufgabe zu widmen – der Öffnung des Theaters –, weil ich wirklich daran glaube, hier etwas bewirken zu können. Ich möchte anderen marginalisierten Personen Zugang zu den Theatern ermöglichen, damit sie zum ersten Mal grosse Bühnen besetzen können, die ihnen in der Vergangenheit verwehrt wurden oder zu denen sie selbst keinen Zugang zu haben glaubten – sei es als Künstler*innen oder als Publikum. Ich möchte diese unsichtbaren Grenzen, die uns die Gesellschaft auferlegt, durchbrechen. Darin sehe ich meine Aufgabe im Theater.

Es ist noch ein langer Weg, aber ich denke, es gibt Tendenzen, die in die richtige Richtung zeigen. Und ich möchte darauf vertrauen, dass dieser Wandel eintreten wird. 

 

Credits
Interview: Lea Loeb
Fotos: Matías Gutiérrez und Diego Astarita
übersetzt aus dem Spanischen ins Deutsche von Lea Loeb