Von links nach rechts: Dondon Hounwn, Shu Lea Cheang, Ping-Yi Chen

«In unserem Verständnis sind wir alle Teil von Gaya»

 

Shu Lea Cheang ist eine der aufregendsten Multimedia-Künstler*innen und Filmemacher*innen der Gegenwart. Sie arbeitet mit verschiedenen Medien und Formaten, darunter Installation, Performance, Netzkunst, Kunst im öffentlichen Raum, Videoinstallation, Spielfilm und mobile Webserien. Ihr künstlerisches Schaffen zeugt von der Vorstellungskraft und dem Wunsch, die Grenzen von Gesellschaft, Geografie, Politik und Wirtschaftsstruktur zu überschreiten und so Geschlechter, Rollen, Mechanismen usw. neu zu definieren. Dazu entwirft sie auch immer wieder Sci-Fi-Erzählungen, wie das «Living Gaya Dreaming Hagay» Universum, das sie zusammen mit Dondon Hounwn erarbeitet hat – und das im August am Zürcher Theater Spektakel gezeigt wird. 

Dondon Hounwn ist Künstler und Schamane der Truku-Indigenen in Taiwan.  Seine Arbeit ist medien-, generationen- und kulturübergreifend und verbindet das Wissen seiner Vorfahren mit einer avantgardistischen, geschlechterübergreifenden Ästhetik. Sein vielfältiger Hintergrund umfasst eine Ausbildung in indigenem Tanz, Musik und Theater sowie eine Tätigkeit als Kulturmanager und Dozent. Arbeiten von Dondon Hounwn wurden in zahlreichen renommierten Gallerien und Museen ausgestellt, u.a. im  National Taiwan Museum of Fine Arts.

Das von Lea Loeb geführte Interview mit Shu Lea Cheang, Dondon Hounwn und der Produzentin Ping-Yi Chen fand am 5. Juli über Zoom auf Englisch und Mandarin statt. Lea Loeb nahm aus Zürich teil, Shu Lea Cheang aus Frankreich, Ping-Yi Chen war aus der Metropole Taipeh zugeschaltet, und Dondon Hounwn aus seinem Heimatdorf in den Bergen Taiwans.

 

Foto: Hsuan Lang Lin

 

Vielen Dank, Shu Lea, Dondon und Ping-Yi, dass ihr euch Zeit nehmt für dieses Gespräch. Wir freuen uns, euch in einigen Wochen in Zürich mit eurer Arbeit «Living Gaya Dreaming Hagay» begrüssen zu dürfen. Es wird das allererste Mal sein, dass eure Arbeit in der Schweiz zu sehen ist. Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt mit der Shedhalle Zürich, das im Rahmen des Festivals zu sehen sein wird.

Die Präsentation in Zürich ist Teil einer langjährigen Recherche. Könnt ihr mir mehr darüber erzählen? Ich bin auch neugierig, mehr über eure Zusammenarbeit zu erfahren. Wie genau arbeitet ihr als künstlerisches Team zusammen und wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

SLC Unsere Zusammenarbeit begann im Jahr 2020. Ich wurde eingeladen, eine Reihe von Labs mit dem Titel LAB KILL LAB im C-LAB (Taiwan Contemporary Culture Lab) in Taipeh zu kuratieren. Dondon wurde eingeladen, das Phytopia-Labor zu leiten. Er führte einen Waldspaziergang in den Dowmung-Bergen durch und kreierte eine prototypische Theaterperformance, die auf der Hagay-Legende basierte. Ich fühlte mich sofort zu den Hagay als non-binäre spirituelle Wesen hingezogen. Ich schlug Dondon vor, weiter zusammenzuarbeiten und das Lebensprinzip von Gaya und die Traumgeschichten der Hagay zu einem Theaterstück zu entwickeln. Wir haben Ping-Yi, die bereits das Laborprojekt koordiniert hatte, angefragt, als Produzentin für «Hagay Dreaming», ein von der Techno-Fantasie geleitetes Theater der Wiederbelebung, einzusteigen. Wir haben uns fünf Jahre Zeit gegeben für die Umsetzung des grossen Theaterstücks. In der Zwischenzeit arbeiten wir an der Entwicklung verschiedener Formate für die Präsentation in unterschiedlichen Umgebungen weiter. Dazu gehört auch die Sommertournee 2024, die in Zürich (Zürcher Theater Spektakel und Shedhalle) beginnt und uns von Dänemark (Click-Festival und Tofu-Kollektiv) nach Lausanne (Platforme10) führt. Im Jahr 2025 werden wir schliesslich die abendfüllende Theaterfassung mit Dance Reflections in der Tate Modern in London zur Premiere bringen.

Kannst du mir mehr über das Gaya Living-Prinzip erzählen?

DH Gaya ist ein Prinzip und eine Ordnung der Gesellschaft, der Welt, des Kosmos, die für das Volk der Truku, dem indigenen Stamm, dem ich entstamme, zentral ist. Für uns ist Gaya überall und alles. Es gilt sowohl für das individuelle als auch für das kollektive Leben, vom Tod bis zur Geburt, in Fortführung als Endlosschleife. Letztlich beschreibt Gaya eine spirituelle Welt – durch die Verschmelzung von Körper und Seele, um «snhiyi», eine Kraft des totalen Vertrauens, zu erreichen. Das ist unsere Art, die Welt zu verstehen.

SLC Das Gaya Living-Prinzip versteht alle Lebewesen als miteinander verbundene, nicht binäre Kreaturen. Diese Weltsicht ist eine Rückkehr zu den Anfängen Taiwans, in unseren Stammesgesellschaften gab es keine binäre Geschlechterwahrnehmung. Dies änderte sich im Laufe der Geschichte durch die koloniale Besiedlung der westlichen Welt mit ihren christlichen Missionaren, die japanische Herrschaft und dann natürlich durch die chinesische Vorherrschaft. Wenn wir über die Wiederverbindung mit dem Gaya-Prinzip in einem künstlerischen Ansatz sprechen, bedeutet das, dass wir das indigene Wissen über den Kosmos zurückerobern, in dem das nicht-binäre, fliessende Geschlecht akzeptiert wird.

 

Das Projekt besteht aus mehreren Teilen: einer Performance, einer Ausstellung und einer Installation. Wie hängen diese drei Projektebenen zusammen?

SLC Das Projekt hat verschiedene Phasen und Stufen durchlaufen. Im Jahr 2022 wurde es im Dowmung Tribe Ceremony Space uraufgeführt, gefolgt von einer mehrstündigen ortsspezifischen Performance in der Stadwerkstatt (Linz, Österreich) in Zusammenarbeit mit Ars Electronica. Auf Einladung der Taiwan Art Biennial wurden eine Installation und eine Performance/Probe im National Taiwan Museum präsentiert. Während wir «Hagay Dreaming» als Theaterstück entwickeln, nutzen wir jede Gelegenheit, die sich uns bietet, um die «Entwicklung» des Werks zu präsentieren. Die europäische Sommertournee 2024 ist als kulturelles Austauschprojekt konzipiert, das es uns ermöglicht, das Gaya-Prinzip und die Vorstellungswelten der Hagay zu vermitteln.

DH Für mich ist das Projekt und die gesamte Zusammenarbeit wie ein Fluss, wie der Fluss Mkruh in der Nähe meiner Heimatstadt Haulien. Der Fluss bringt alle Elemente zusammen und verschmilzt sie.

SLC Der Name des Flusses bedeutet Papaya auf Chinesisch!

PYC Nein, er heisst nicht Papaya, aber der Name klingt ähnlich. Mkruh ist der Stammesname für den Fluss. Er bedeutet «hinter», weil seine Quelle hinter dem Berg liegt.

SLC Das Thema der Übersetzung ist tatsächlich ein sehr interessanter Teil unserer Zusammenarbeit. Dondon spricht die Sprache der Dowmung, eines Truku-Stammes. Eine Sprache, die Ping-Yi und ich nicht verstehen. Also kommunizieren wir drei auf Mandarin, der offiziellen Sprache Taiwans. Manchmal führt die Übersetzung zu Verwirrung oder lustigen Missverständnissen, wie gerade eben, als ich den Fluss Mkruh als Papaya (Mugua)-Fluss verstand (lacht).

Shu Lea, du hast dir in der bildenden Kunst einen Namen gemacht und bereits in grossen Museen in Paris und New York ausgestellt. Wie ist deine Beziehung zu Taiwan und insbesondere zu den indigenen Gemeinschaften in Taiwan?

SLC Ich bin in Taiwan aufgewachsen, aber es stimmt, dass ich den größten Teil meiner künstlerischen Laufbahn als bildende Künstlerin und Filmemacherin in Europa und den USA, also in der westlichen Welt, verbracht habe. Manchmal werde ich zu Ausstellungen nach Taiwan eingeladen, zum Beispiel als Vertreterin Taiwans bei der Biennale von Venedig 2019. Die meisten meiner Präsentationen in Taiwan sind nicht in Taiwan entwickelt worden. «Hagay Dreaming» ist für mich eine echte Auseinandersetzung mit Taiwan und vor allem – durch die Zusammenarbeit mit Dondon vom Stamm der Truku – mit seinen indigenen Gemeinschaften.

Dondon, nebst deiner zeitgenössischen künstlerischen Arbeit bist du ein Schamane des Truku-Stammes. Wie vereinst du diese verschiedenen Aspekte deines Lebens?

DH: Ursprünglich wurde ich in Taipeh zum Performer ausgebildet. Ich zog dorthin, als ich noch sehr jung war, und arbeitete und trat dort mehrere Jahre lang auf. Während dieser Zeit, weit weg von meiner Gemeinschaft, begann ich, mich tiefer mit den Ritualen des Dowmung-Stammes zu beschäftigen. Meine Grossmutter war in unserer Gemeinschaft eine Heilerin. Im Westen würde man das als Schamane bezeichnen, aber bei uns sind das Heiler. Ich begann, mich für das zu interessieren, was meine Großmutter mich gelehrt hatte. Also begann ich, mehr darüber zu lernen und zu studieren. Irgendwann wurde mir klar, dass ich ein natürliches Talent hatte, selbst Heiler zu werden. Also zog ich zurück in mein Dorf. Hier spreche ich fast ausschliesslich die Sprache meines Stammes. Als Heiler habe ich hier Verantwortung übernommen und unterrichte Kinder und Jugendlichen unserer Gemeinschaft. Eigentlich hat meine Arbeit hier viel mit performativer Kunst zu tun. Unsere Sprache ist zum Beispiel sehr poetisch. Ein Beispiel: Wenn ich jemandem in unserer Sprache «Frieden» wünsche, sage ich: «Ich wünsche dir, dass du wie eine Eidechse gehst.» Ich finde das eine sehr poetische und künstlerische Art zu denken und zu sprechen. Für mich lassen sich meine Arbeit in der Gemeinschaft und meine Kunst sehr gut miteinander verbinden. Sie ergänzen sich gegenseitig. Durch die Kunst kann ich über unsere Kultur sprechen und sie mit anderen teilen. Gaya, also das indigene Wissen, und der künstlerische Ausdruck sind für mich wirklich dasselbe.

 

Die Hagay, von denen der Jäger träumt, erzählen von fliessenden Wesen, die sich jenseits des binären Geschlechts bewegen. Wie binär ist das Verständnis der Truku von der Welt? Und wie wird das Thema Geschlecht in der Taiwanesischen Gesellschaft im Allgemeinen behandelt?

DH Die Han-Kultur, also die chinesische Kultur, ist die dominierende Kultur in Taiwan. Der Grossteil der Bevölkerung Taiwans spricht Mandarin und ist sehr stark von der Han-Kultur beeinflusst. Und natürlich von der kolonialen Vergangenheit. Die Gesellschaft in Taiwan ist also sehr binär strukturiert. Das sieht man zum Beispiel an der Kleidung, die sehr stark geschlechtsspezifisch ist. In den indigenen Gemeinschaften ist das ganz anders. Es gibt insgesamt 16 indigene Stämme in Taiwan. Einige von ihnen tragen zum Beispiel weibliche Kleidung als Männer, um die Geister zu belustigen. Unsere Gemeinschaften haben keine Worte für «queer», «schwul» oder «non-binär». Diese Begriffe stammen aus dem Westen, von den Kolonisatoren. Wir haben andere Konzepte des Seins. In unserem Verständnis sind wir alle Teil von Gaya. 

PYC Taiwan war tatsächlich das erste Land in Asien, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat. Aber es ist immer noch eine sehr binäre Gesellschaft. Für schwule oder non-binäre Menschen kann das Leben in Taiwan schwierig sein, da sie immer noch stark stigmatisiert werden. 

In eurem Werk verweben sich Tradition und Fiktion. Ihr skizziert eine nicht-binäre, futuristische Realität, die sich auf den Glauben und die Bräuche des Truku-Stammes bezieht. Die Verschmelzung der verschiedenen Ästhetiken interessiert mich sehr. Könnt ihr mir mehr darüber erzählen?

SLC  Als ich Dondon kennenlernte, war ich fasziniert von der Vision, wie sich meine Arbeit – die sehr stark in der Welt der Medien und der Technologie angesiedelt ist – mit der Welt von Dondon verbinden könnte. Ich habe stets mit Elektronik, Video, Sound, Codierung, Motion Capture und dem Internet gearbeitet. Wie können wir also die Ästhetik der neuen Medien mit der traditionellen Art der Aufführung der Stammeskultur verbinden? Wie können wir die indigene Kultur im Zeitalter der Technologie präsentieren? Es war inspirierend und herausfordernd, da die Stammeskultur bereits so performativ ist. Uns schwebte vor, neue Medien mit den Repräsentationen von Stammeskulturen zu verschmelzen – z.B. Weben, Jagen – und in horizontalen und vertikalen Laserstrahlen als eine Art Zickzack des Lebens darzustellen. Für die Performance in der Shedhalle werden wir ein Stammes-Totem mit strahlendem Laserlicht erstellen, das die spirituelle Führung und den Schutz heraufbeschwört.

 

Das Weben spielt eine zentrale Rolle in eurem Projekt. Wie metaphorisch ist das?

DH In der Stammessprache sagen wir dazu «Tminum». Dieses Wort bedeutet Weben. Bei den Han war das Weben immer eine Aufgabe für Frauen. Nicht so bei unseren Gemeinschaften. Weben ist in unserem Verständnis nicht binär. Mit diesen Fäden können auch Muster wie das Totem gewebt werden, und sie sind wirklich mächtig und stark. Weben kann verschiedene Welten zusammenbringen. Es steht für die nicht-binären Geister und die Geister von Gaya.

Shu Lea und Dondon, ich habe noch eine letzte Frage: Ihr habt sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Kunst und auf Taiwan und ihr kommt aus unterschiedlichen Generationen. Wie fühlt sich diese Zusammenarbeit für euch an? Was könnt ihr voneinander lernen?

DH Ich kann eine Menge von Shu Lea lernen. Sie verliess Taiwan, als sie sehr jung war, und sie hat lange im Ausland gelebt. Sie hat eine ganz andere Perspektive. Ich bewundere sie und ihre Arbeit und habe grossen Respekt vor ihr. Normalerweise sind es die jüngeren Leute, die die Welt bereisen. In unserem Fall ist das nicht so! Für mich ist es auch neu, aus der Ferne zusammenzuarbeiten. Wir sprechen meistens am Telefon oder per Videoanruf. Ich bleibe hier im Dorf bei meiner Gemeinschaft und sie reist viel. Aber wir arbeiten trotzdem sehr eng zusammen und kommunizieren viel. Das ist neu für mich und sehr inspirierend.

SLC Ich lerne auch sehr viel von Dondon und über die indigenen Kulturen Taiwans. Als queere Person, kann ich mich sehr gut mit dem Gaya-Prinzip der non-binären Natur identifizieren. Ich bin wirklich glücklich, mit Dondon und Ping-Yi an diesem Projekt zu arbeiten. Es ist eine spirituelle Reise für uns alle, während wir das Projekt weiterentwickeln. Als Produzentin übernimmt Ping-Yi eine entscheidende Rolle. Ich möchte sie deshalb bitten, das Schlusswort zu sprechen.

PYC Nun, Taiwan ist ziemlich berühmt für seine Technologie, nicht wahr? Die Taiwanesische Regierung fördert die Herstellung von Technologie und ist sich gleichzeitig bewusst, dass die Rückbesinnung auf die indigenen Kulturen für das demokratische Selbstverständnis Taiwans zentral ist. «Hagay Dreaming» verbindet diese beiden zentralen Anteile der kulturellen Identität Taiwans. Unser Projekt ist etwas ganz Besonderes und Einzigartiges, und ich habe so viel gelernt, insbesondere über die Gaya und die Truku-Gemeinschaft. Ich hatte nicht erwartet, dass ich auf dieser Reise so viel Wissen erlangen würde. Es war ein langer Prozess, der viel Anstrengung erfordert, um das Projekt voranzubringen, aber es ist unglaublich lohnend.

Ich freue mich auf die Begegnung mit dem Publikum in Zürich!

 

Credits
Interview: Lea Loeb
Fotos: ©SMITH, Petra Moser, Hsuan Lang Lin
übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Franziska Henner