Theater kann komplexe Realitäten näherbringen

Der Name Rimini Protokoll hat sich im deutschsprachigen Theater fast schon als Synonym für Dokumentartheater etabliert. Das Künstlerkollektiv, bestehend aus Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel, schafft seit dem Jahr 2000 innovative und vielschichtige Theaterstücke, Installationen, Interventionen, Hörspiele und andere künstlerische Formate. Was Rimini Protokoll auszeichnet, ist ihre einzigartige Herangehensweise an die Themen und die Besetzung ihrer Werke. Anstatt traditionelle Schauspieler*innen zu engagieren, arbeiten sie mit sogenannten «Expert*innen des Alltags». So auch in diesem neuen Stück «Dies ist keine Botschaft (Made in Taiwan)», das vom 29. bis 31.8. im Rahmen des Zürcher Theater Spektakels gezeigt wird.

 

Stefan, schön dass Du Zeit gefunden hast für dieses Gespräch. Was hat für dich den Anstoss gegeben, ein Stück über die diplomatische Situation Taiwans zu machen, und wie bist du in der Recherche vorgegangen?

Ich fand Taiwan schon immer sehr aufregend. Ich habe auch schon einige Projekte in China realisiert und bin der Kultur dort sehr verbunden. In Taiwan merkt man aber, dass dort Demokratie herrscht, was sich in vielen Aspekten zeigt, von der Städtebauplanung bis hin zum künstlerischen Milieu, das sehr divers und lebendig ist. Jedenfalls bin ich schon seit Jahren immer mal wieder für Arbeiten in Taiwan gewesen, zum Beispiel mit unserem Stück «Remote X», das vor vielen Jahren ja auch zum Theater Spektakel eingeladen war. Für «Remote Taipei» haben wir eine spektakuläre Version inszeniert, die auf einem Helikopterlandeplatz endete. Dafür habe ich zum ersten Mal mit Szu-Ni Wen zusammengearbeitet, die nun bei «Dies ist keine Botschaft» die Dramaturgie verantwortet. Sie hat 2020 auch «100% Kaohsiung» für uns inszeniert – Kaohsiung ist eine Stadt im Süden von Taiwan –, weil wir während der Pandemie nicht reisen und das Stück daher nicht selbst umsetzen konnten. Mit Szu-Ni gab es also schon einen längeren Dialog.

Ja und so war ich sehr erfreut, als mich das Nationaltheater Taipeh 2022 eingeladen hat, einige Monate vor Ort zu verbringen. Wir haben dann schon im Vorfeld mit Szu-Ni versucht herauszufinden, welche Expert*innen geeignet sein könnten, die prekäre diplomatische Situation Taiwans zu erzählen.

Kannst Du das noch genauer erläutern?

Taiwan hat einen einzigartigen politischen Status, was zu sehr absurden Situationen führen kann. Als ich einmal eine Einladung vom Trade Office of Swiss Industries bekommen habe und nicht verstanden habe, was ich an so einem Handelsort sollte, da hat mir die Frau an der anderen Seite der Leitung erklärt, dass das nur der Deckname für die Schweizer De-Facto-Botschaft in Taiwan sei, weil man sich aus geopolitischen Gründen keine richtige Schweizer Botschaft erlauben könne – so wie Taiwan eben auch in der Schweiz keine Botschaft haben kann – und auch in den meisten anderen Ländern Europas oder der Welt nicht.

Das ist so, weil Taiwan von China aber auch international nicht als souveräner Staat anerkannt wird.

Dafür hat sich in Taiwan eine grosse Kreativität entwickelt, andere Formen von Präsenz auf bilateraler Ebene für das Land zu schaffen – das kennt man in der Schweiz ja auch, zum Beispiel im Zusammenspiel mit der EU. Unsere Performerin Chiayo Kuo zum Beispiel praktiziert das in Taiwan sehr kreativ:  Sie ist zwar keine offizielle Diplomatin, gibt aber auf sozialen Medien dem Land eine emotional sehr wirksame Präsenz. Chiayo ist eine von den drei Expert*innen, die am Ende einer sehr langen Recherchezeit und vielen Begegnungen mit Diplomat*innen, Journalist*innen, Geostrateg*innen, Soldat*innen und Künstler*innen, nun in «Dies ist keine Botschaft» auf der Bühne steht.
 

Die anderen beiden Expert*innen sind David Chienkuo Wu, ein ehemaliger Botschafter und Debby Szu-Ya Wang, Erbin einer Bubble-Tea-Dynastie. Wie hast du diese beiden gefunden und dazu gebracht, in das Projekt einzusteigen?

Das war gar nicht so leicht: echte Botschafter haben natürlich keine Zeit und dürfen aufgrund ihres Status nicht frei erzählen. Wir haben einige pensionierte Diplomaten getroffen und sind dann über verschiedene Wege auf David gestossen. Er ist ehemaliger Botschafter und arbeitet darüber hinaus als Priester in Taiwan – es hat uns fasziniert, dass er auch leidenschaftlich singt und eben theatral auftritt, wie das viele Botschafter*innen tun. Auf Debby sind wir gestossen, weil sie sich für einen unserer öffentlichen Calls beworben hatte. In dem Zusammenhang haben wir viele Leute getroffen. Ihre persönliche Geschichte und ihre Verbindung zu einer grossen Handelsdynastie haben uns interessiert – und natürlich auch, dass sie Musikerin ist. 

Die drei repräsentieren verschiedene Generationen und unterschiedliche politische Überzeugungen. Wie seid ihr mit den Unstimmigkeiten umgegangen?

Ja, Chiayo, David und Debby stammen aus verschiedenen Generationen, politischen Lagern und familiären Hintergründen. Ihre Meinungen stiessen bei den Proben sehr direkt aufeinander. Für sie alle stand viel auf dem Spiel. Das ist ja auch klar: Wenn man auf einer Bühne öffentlich seine Haltung und sein Land vertreten soll, dann will man das auch richtig tun. Da gab es schon viele Auseinandersetzungen. Wir haben gemerkt, dass wir Konflikte besänftigen können, indem wir Schilder erfinden, auf denen «I Disagree» steht.
 

Eines davon haben wir beim Theater Spektakel auch für unsere Plakatsujets verwendet. 

Genau. Diese Schilder ermöglichten uns auf den Proben, nicht einverstanden zu sein, aber dennoch nicht sofort die anderen unterbrechen zu müssen. In der Welt gibt es schon genügend Orte, wo man sich nur anschreit oder gar nicht erst zulässt, dass der andere mit aufs Podium kommt, weil man eine andere Meinung hat. So haben wir eine gewisse Konkordanzformel gefunden, die es erlaubt, auf der Bühne mehrere Meinungen nebeneinander stehen zu lassen.
Das Schöne an der taiwanesischen Geschichte und Politik ist, dass sie wahnsinnig komplex ist und dadurch erzählerisch sehr viel hergibt. Leider wird Taiwan in den Medien oft verkürzt dargestellt, wenn man nur über die chinesischen Beinahe-Angriffe liest. Es ist gut, dass wir wir auf der Bühne ein bisschen mehr Zeit haben, um tiefer in diese Themen einzutauchen.

Begeben die drei sich eigentlich in Gefahr, wenn sie sich im Theater öffentlich zu ihren Haltungen äussern?

Wir hoffen das natürlich nicht, aber ganz sicher weiss man das natürlich nie. Es gab schon ein wenig Druck von der chinesischen Botschaft im Vorfeld der Aufführungen, aber seither habe ich nichts mehr gehört. Ich denke, die Vertreter*innen haben wohl gesehen, dass das Stück keine Propagandaveranstaltung für ein unabhängiges Taiwan ist.

Wie würdest Du denn deine eigene Position in diesem Stück beschreiben, als Schweizer Regisseur?

Im Zentrum stehen die drei Expert*innen, es ist ihr Text und ihr Stück. Ich habe es strukturiert, organisiert, editiert, moderiert und Bilder und Musik hinzugefügt. Dabei stand ich die ganze Zeit sehr eng im Dialog mit Dramaturginnen wie Szu-Ni Wen, vom Nationaltheater in Taipe und mit Caroline Barneaud, die das Stück aus Schweizer Perspektive begleitet hat. Es geht bei dem Projekt nicht darum, meine Meinung zu Taiwan zu vermitteln. Das Stück handelt davon, wie Taiwan im Ausland dargestellt wird und damit auch um die Beziehungen der Schweiz zu China, die der Grund sind, warum es in der Schweiz keine taiwanesische Botschaft gibt.  Insofern spielen wir als Faktor von aussen also durchaus auch eine Rolle. Das Ganze ist ein sehr spannendes interkulturelles Verständigungsprojekt geworden. Und zwar nicht nur zwischen mir und den Darstellenden, sondern auch zwischen den produzierenden Einheiten – dem Theatre Vidy aus Lausanne und dem Nationaltheater in Taipeh – die da in verschiedenen Bereichen zusammengearbeitet haben und die sehr verschiedene Funktionsweisen haben, in verschiedenen Sprachen kommunizieren, wo verschiedene Mentalitäten aufeinandertreffen.

 

Ihr habt das Stück nach Aufführungen in Berlin, Österreich und der Schweiz ja auch noch in Taiwan gezeigt. Wie war das?

Das war auf jeden Fall aufregend und hat noch einmal einiges aufgewühlt. Das ganze Team, besonders aber die Darsteller*innen, waren vor den Taiwan Auftritten nervös, es gab auch Tränen und laute Stimmen. Aber all das wurde schliesslich auf der Bühne verhandelt, und am Ende des Abends standen alle nebeneinander, verbeugten sich gemeinsam als Team und hatten gemeinsam mit dem Publikum einen utopischen Moment geschaffen. Sie konnten eine Botschaft öffnen – jeden Abend vor einem ausverkauften 1400-Plätze-Haus –und sie wieder schliessen – inclusive allem, was das impliziert.

Das Stück ist für mich ein sehr gelungenes Beispiel dafür, wie Theater Fakten schaffen oder auch Rahmen sprengen kann. Denkst Du, Theater kann realer sein als die Realität?

Ich würde sagen, Theater kann zumindest ebenso real sein wie die Realität. Der Bühnenraum ist genauso ein echter Raum wie der ausserhalb. Und wenn dort Menschen nicht deshalb auf der Bühne stehen, weil sie etwas Bestimmtes gut gelernt haben, nämlich andere Menschen darzustellen, sondern wenn sie da stehen mit ihrer Biografie, mit ihrer Meinung, mit ihrer deformation professionelle  und ihren ganzen anderen Ticks und Eigenarten – dann sind sie natürlich im Prinzip genauso real wie abseits der Bühne.

Darüber hinaus bietet uns aber die Bühne die Freiheit der Kunst, die uns erlaubt, in einem Theater eine Botschaft zu errichten, obwohl das draussen nicht möglich ist. Theater kann uns durch Empathie komplexe Realitäten näherbringen. Wo sonst kann man von Zürich aus mal schnell an einem Abend in so eine höchst vielschichtige Wirklichkeit zwischen chinesischer, japanischer, indigener südostasiatischer Kultur eintauchen, und das alles nicht nur mit Untertiteln verständlich gemacht sondern auch wirklich nah dran an den Menschen, die normalerweise tausende Kilometer weg sind von uns? Insofern  – ja – kann das Theater vielleicht manchmal sogar ein bisschen realer sein als die Realität.

Credits
Interview: Lea Loeb
Fotos: Claudia Ndebele