Editorial der Festivalleitung
Zum Beispiel Ruanda. «Menschen, die illegal in Grossbritannien ankommen, werden festgenommen und umgehend in ihre Heimatländer befördert, wenn diese sicher sind, oder in ein anderes sicheres Land, zum Beispiel Ruanda.» So steht es im neuen «Stop the boats»-Gesetz der britischen Regierung. Das Gesetz gegen illegale Migration war eines der zentralen Versprechen des neuen Premierministers. Die Innenminister*innen der EU-Staaten haben sich jüngst darauf verständigt, einen Teil der Asylverfahren schon an den EU-Aussengrenzen abzuwickeln. Mehrere europäische Länder wollen diese gleich in Nordafrika erledigen. Der immer restriktivere Umgang mit Asyl in Europa ist so normal geworden, dass Verschärfungen kaum wahrgenommen und stattdessen Absurditäten diskutiert werden, die offensichtlich gegen europäische Werte verstossen. Seit langem wird mit der Angst vor «Überfremdung» auch hier erfolgreich Politik gemacht. Gleichzeitig hat man wenig vom Kampf gegen globale Ungleichheit oder andere Fluchtursachen gehört.
Beim Zürcher Theater Spektakel waren die Themen Flucht und Migration auch vor dem Krieg in der Ukraine traurige Stammgäste, da sie aus dem Leben vieler Künstler*innen aus dem Globalen Süden nicht wegzudenken sind. Zwei frei zugängliche Installationen auf der Landiwiese von Plastique Fantastique und Border Forensics beschäftigen sich dieses Jahr explizit mit Grenzen. Andere Produktionen werfen Schlaglichter auf die kolonialen Hintergründe und die zugrundeliegenden Logiken. Die moldawische Theatermacherin Nicoleta Esinencu beschreibt in ihrer musikalischen Performance «Sinfonie des Fortschritts» anhand der Geschichten osteuropäischer Arbeitsmigrant*innen die Ausbeutung zwischen Ost und West, machtpolitische Verstrickungen und das Kalkül des westlichen Kapitalismus. Der Philosoph und Umweltforscher Malcom Ferdinand aus Martinique schlägt in dem Ausschnitt aus seinem Buch «Decolonial Ecology», den wir als Festivalessay veröffentlichen, einen weiteren Bogen: Er benennt die Zusammenhänge zwischen kolonialer Geschichte und ökologischer Krise, zwischen der Ausbeutung von Mensch und Natur. Er plädiert für eine neue Brücke aus Gerechtigkeit und Rechtsprechung und beschreibt als Voraussetzung dafür die ernsthafte Wahrnehmung aller, das heisst auch der nicht menschlichen Lebewesen, als Partner*innen in der gemeinsam geteilten Welt. Diese umfassendere Perspektive auf unsere Umgebung macht die chilenisch-mexikanisch-österreichische Choreografin Amanda Piña mit einem performativen Spaziergang auf die Zürcher Allmend erlebbar. Ihre Tänzer*innen und ein Schamane untersuchen in der «School of Mountains and Water» verschiedene Formen von kolonialem, ausbeuterischem Denken und setzen diesem indigenes Wissen mit einem anderen Blick auf die Natur und unser Verhältnis zu ihr entgegen.
Mit dem Programm 2023 gehen für uns einige lange gehegte Wünsche in Erfüllung: Endlich können wir das in der Pandemie entstandene besondere Konzertprojekt der kanadischen Musikerin Leslie Feist zeigen und darüber hinaus Projekte von Künstler*innen, mit denen wir schon vor mehreren Jahren angefangen haben zu sprechen, wie Juan Onofri Barbato aus Argentinien oder Mallika Taneja aus Indien. Viele junge Theatermacher*innen sind erstmals in der Schweiz zu sehen. Und unter den etablierten Künstler*innen sind einige besonders herausragende Arbeiten entstanden: Miet Warlops beeindruckende Performance «One Song» wurde etwa von der «New York Times» zur Performance des Jahres erklärt, und mit «All right. Good night.» kommt Rimini Protokolls gefeierte, gleichermassen stille und musikalische Arbeit über Demenz nach Zürich.
Das diesjährige Festival sieht dabei fast so aus «wie früher» – es ist auf den ersten Blick vieles wie vor der Zäsur durch die Pandemie. So leisten auch wir einen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Schein der wiedererlangten Normalität. In der internationalen Kulturszene ist die Situation nach wie vor angespannt. In vielen Ländern sind Förderer infolge der Pandemie zurückhaltender mit Unterstützung für Kunst, und auf der ideellen Ebene zeichnet sich ein reaktionärer Backlash ab. Nicht nur hierzulande wird gegen Diversität ein polemischer Kulturkampf betrieben und werden errungene Liberalisierungen und institutionelle Öffnungen bekämpft.
Das Zürcher Theater Spektakel versucht wie immer mit allen Mitteln der Kunst, den Horizont zu erweitern. Die mehreren hundert internationalen Künstler*innen bilden mit den über 100 000 kulturinteressierten Zürcher*innen auf der Landiwiese einen wunderbar unwahrscheinlichen sozialen Raum: Es gibt nicht viele Situationen auf der Welt, die so niederschwellig Kontakt mit zeitgenössischer Kunst einerseits und anderen Realitäten anderseits ermöglichen. Viele Künstler*innen bieten mit ihren Arbeiten gleichzeitig überraschende Perspektiven an. Zusammen mit unseren Gästen bei der Vortragsreihe Talking on Water auf der Seebühne und am allabendlichen Stammtisch laden sie alle mit ihren Ideen und ihrer Kunst dazu ein, die Welt neu und anders zu sehen. Herzlich willkommen!
Die Festivalleitung
Matthias von Hartz, Sarah Wendle, Veit Kälin