Für eine Kosmopolitik der Beziehungen
Essay von Malcom Ferdinand
Dass alles mit allem verbunden ist, heisst noch nicht zwangsläufig, dass wir auch eine Vorstellung davon haben, wie dieses Alles zu einer gemeinsamen Welt wird, und ebenso wenig, was das für Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit bedeutet. Es genügt zum Beispiel nicht, eine «kreolische» Identität zu teilen oder sich zu bekennen, queer zu sein, um bereits eine Welt und eine Gemeinschaft zu bilden. Und genauso wenig genügt es, sich als Teil des Bergs zu verstehen, um die Ausbeutung von Natur und nicht menschlichem Leben zu verhindern. Die Welt ist Frucht von gemeinsamem Handeln. Wie können wir nun nach Kolonisierung und Sklaverei eine Polis – im Sinne eines gemeinsam bewohnten Ortes – von Menschen und nicht menschlichen Lebewesen errichten?
Die Ökologie der Welt verlangt nach einer Kosmopolitik der Beziehung, die sich um zwei Grundüberzeugungen spannt: Zum einen entfaltet sie sich in einem politischen Raum, der die einzelnen Menschen miteinander verbindet. Auch wenn Unterschiede in Geschlecht, sozialer Klasse, politischer Überzeugung oder ethnischer Herkunft die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten fördern oder aber ausbremsen, bringt gemeinsames Handeln doch etwas anderes hervor als die blosse Reproduktion von Identitäten und Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen. In einer Welt, die als eine gemeinsame angesehen wird, wird es möglich, sich als Partner* in der anderen zu begreifen. Diese erste Grundüberzeugung entspringt der Erkenntnis, dass die Voraussetzung für ökologisches Denken und Handeln eine Welt ist, deren politische Organisation zwischen Menschen verhandelt wird.
Die zweite Grundüberzeugung lautet, dass die politische Architektur die Art und Weise vorzeichnet, in der auch nicht menschliche Lebewesen an der Welt teilhaben können. In diesem Sinn verstehe ich unter dem Begriff Welt-Ökologie die Erhaltung einer Welt zwischen Menschen und mit nicht menschlichem Leben. Tierdiplomatie, die Bildung von Kollektiven aus menschlichen und nicht menschlichen Wesen sowie die Anerkennung von Ökosystemen und des wilden Teils der Welt als Rechtssubjekte sind Wege, um die Existenz und die Interessen von nicht menschlichem Leben innerhalb einer gemeinsamen Welt sichtbar zu machen.
In ihrem Ziel bleibt eine Kosmopolitik der Beziehung immer von der Frage geleitet: Wie kann man eine Welt bilden, die von der Erde und ihrer konstitutiven Pluralität von Andersheiten und multiplen Seinsarten ausgeht? Ansetzen müsste sie bei der allgemeinen Anerkennung der beispiellosen Gewalt und der Gräben, die Kolonialherrschaft und Umweltzerstörung in den letzten fünf Jahrhunderten gerissen haben. Diesem Anspruch gerecht zu werden, setzt voraus, dass eine Brücke der weltweiten Gerechtigkeit und Rechtsprechung gebaut wird, die diesen doppelten kolonialen und umweltzerstörerischen Graben der Moderne zu überspannen vermag.
Um diesen doppelten Graben zu überwinden und sich ein Welt-Schiff vorzustellen, muss eine Brücke der Gerechtigkeit konstruiert werden, die Menschen und nicht menschliche Lebewesen von gestern und morgen zusammenführt. Diese Brücke ist sowohl der Ort, an dem sich – vom Sklavenschiff bis zum Star- Trek-Raumschiff – verschiedene Wesen und Arten begegnen, als auch der Zwischenraum, der die Ufer der Vergangenheit mit denen der Zukunft verbindet. Ohne hier auf juristische Details eingehen zu wollen, können Gerechtigkeit und Rechtsprechung diese gemeinsame Bühne schaffen, auf der Rechenschaft abgelegt und damit ein Bewusstsein für die Pluralität der Menschen und nicht menschlichen Wesen geschaffen wird, für ihre Geschichten und ihre Zukunft. Die Konstruktion des Welt-Schiffs geht von unseren Körpern aus und zwingt uns anzuerkennen, dass die Wege, die wir auf dieser Welt zurücklegen, uns wie Nabelschnüre verbinden. Im Gegensatz zur Nabelschau, die um das eigene Selbst kreist, lassen uns solche Nabelschnurwege erkennen, dass unsere Existenzen in ein Netzwerk von organischen, materiellen, politischen und imaginären Beziehungen eingebunden sind mit denen, die vor uns da waren, und denen, die nach uns kommen. Körper tragen die Welt von gestern in sich und garantieren zugleich die von morgen.
Zum Bau dieser Brücke der Welt gehört der Kampf gegen die Klimaerwärmung, gegen die Nutzung von Atomenergie und gegen die anhaltende Verschmutzung des Planeten genauso wie der für die Anerkennung von Rechten für nicht menschliche Lebewesen. Das Thema Klimagerechtigkeit zwingt uns, uns genauso mit den Emissionen der Vergangenheit auseinanderzusetzen wie mit den Folgen dieser Erwärmung für die Zukunft. Allerdings ist es wichtig, eine solche generationenübergreifende Gerechtigkeit und Rechtsprechung aus der Sackgasse des doppelten kolonialen und umweltzerstörerischen Grabens der Moderne herauszuführen. Den Nabelschnurwegen der Welt zu folgen heisst, dass wir auch die Last des Rassismus, die Last der ungleichen Verteilung von Kapital bei der Geburt und die Last der kolonialen und sklavenhalterischen Vergangenheit der Moderne tragen. Die Brücke des Welt- Schiffs ist eine ökologische, aber auch eine soziale, politische und imaginäre. Wir sollten nicht vergessen, dass das Nachdenken über Klimagerechtigkeit von der Bewegung für Umweltgerechtigkeit inspiriert ist, die in den frühen 1980er-Jahren von der Schwarzen Bevölkerung und den Minderheiten in den USA wegen ihrer ungleichen Belastung durch Giftstoffe initiiert wurde und die gegen «Umweltrassismus» kämpfte.
So wie es möglich ist, sich eine generationenübergreifende Gerechtigkeit für den Klimawandel vorzustellen, ist es auch notwendig, eine für das Kolonialerbe der Moderne zu denken. Die verschiedenen sozialen, verbandsseitigen, politischen und juristischen Versuche, die moderne Welt von heute mit ihrem kolonialen Erbe zu konfrontieren, bauen ebenfalls an der Brücke der Gerechtigkeit für das Welt-Schiff mit. Dabei sind mindestens drei Arten von Baumassnahmen zu beobachten.
Da sind zum einen die Kämpfe der indigenen Völker der Welt für Würde, das Recht, ihre Gemeinschaften zu erhalten und ihre Lebensweisen zu bewahren. Vom Widerstand gegen die Keystone-Pipeline in den USA und in Kanada über die Forderungen nach Wiedergutmachung der Bewohner*innen Polynesiens nach den französischen Atomtests bis hin zum Kampf der von Berta Cáceres angeführten Lenca-Gemeinschaft in Honduras gegen die Staudämme des Gualcarque-Flusses sind das Gemeinschaften, die Opfer der verschiedenen Phasen der Kolonialisierung und des Landraubs geworden sind. Die 2007 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Deklaration der Rechte indigener Völker beinhaltet nicht nur die Bestätigung, dass indigene Völker das Recht haben, würdevoll behandelt zu werden, sondern auch die Verurteilung der kolonialen Raubzüge, deren Opfer sie seit dem 15. Jahrhundert waren. Man kann also nicht länger naiv die Lebensweisen der Ureinwohner*innen, die Pachamama, die Inuit-Mythen oder die Kosmogonien der Native Americans feiern, ohne gleichzeitig die moderne Kolonialgeschichte zu berücksichtigen, die diese Völker an den Rand der Welt gedrängt hat.
Auch die zweite Art von Baumassnahme, nämlich die Forderungen nach Reparationen für die Sklaverei und den transatlantischen Sklavenhandel, baut an der Brücke der Gerechtigkeit des Welt-Schiffs mit. Diese Forderungen werden zwar schon seit der Epoche der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert erhoben, haben aber in den letzten zwanzig Jahren grösseres Echo gefunden. In der Vergangenheit wurden die Forderungen von versklavten Menschen nicht nur abgelehnt, sondern im Gegenteil ehemalige Kolonialbesitzer* innen sogar entschädigt und mit Ersatzleistungen für ihre «Verluste» bedacht. Neben dem Reflex in Europa wie in Nord- und Südamerika, die Geschichte der Sklaverei mit der scheinheiligen Begründung zu verdrängen, hier werde von oben herab Reue verordnet, werden die geäusserten Forderungen heute vor allem aus einer technischjuristischen Perspektive betrachtet und abgelehnt: Das Verbrechen liege lange zurück und sei daher verjährt und der Schaden nicht bezifferbar. Diese Einwände sind jedoch nicht haltbar. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verjähren nach internationalem Recht nicht, es sei denn, man spricht denen, die diese Verbrechen erlitten haben, erneut die Menschlichkeit ab und reproduziert dieselbe koloniale Geste noch einmal.
Auch die dritte Art von Baumassnahme zielt auf die Brücke der Gerechtigkeit: die Forderungen nach Rückgabe von Kunstgegenständen und menschlichen Körperteilen, die von europäischen Kolonialmächten in Afrika gestohlen wurden und heute in Galerien ausgestellt und in den Lagern von europäischen Museen und Bibliotheken verwahrt sind. Auch eine solche Rückgabe kann nicht auf den rein materiellen Transport von einem Ort an einen anderen beschränkt werden. So wichtig wie die materielle Rückgabe sind Narrative, die die Herkünfte dieser Objekte und die Umstände ihres Erwerbs beleuchten. Auch die von einer solchen diskursiven Arbeit begleiteten Rückgabe von Kunstobjekten ist ein Weg, um jene Brücke zu bauen, auf der die verschiedenen Akteure anerkennen, dass sie ein und dieselbe Geschichte teilen: die Errichtung eines kolonialen Europas, das sich auf die Ausbeutung von Körpern, Ökosystemen, Kulturen und dem Kulturerbe Afrikas gründete. Die Entwaldung und die Förderindustrien, die Afrika seit dem 15. Jahrhundert bis heute zusetzen, sind nichts als die Kehrseite ebendieser Errichtung von kolonialer Grösse.
Angesichts dieses ökologischen Sturms eine Brücke der Gerechtigkeit zu bauen, verlangt sowohl das Zugestehen einer politischen Rolle für Ökosysteme und nicht menschliche Lebewesen als auch eine politische Anerkennung von Völkermord, Sklaverei und Kolonisierung, die diese Zerstörungen der Welt und der Erde möglich gemacht haben. Nur die ökologische Seite dieser generationenübergreifenden Gerechtigkeit zu betrachten, hiesse, die Brücke zu bauen, aber darin Löcher klaffen zu lassen, auf die all jene zustürzen werden, die weiter die Frachträume der Sklaverei bespielen. Der Brückenbau erfordert eine Dekolonisierung der Institutionen in den Ländern des globalen Nordens. Von Universitäten und staatlichen Museen bis zu den religiösen Institutionen kann dem ökologischen Sturm nur begegnet werden, wenn man auch der kolonialen Verfassung und der Sklaverei der Moderne ins Auge sieht. Man kann diesen doppelten Graben nicht länger hinnehmen, in dem einerseits Abkommen zur Bekämpfung der Klimaerwärmung unterzeichnet und Verpflichtungen zur Begrenzung von Umweltverschmutzung und zur Erhaltung der Artenvielfalt eingegangen, aber andererseits bestenfalls ein paar blumige Worte über die Kolonialgeschichte verloren werden. Die Bemühung, eine Brücke der Gerechtigkeit zu bauen, muss mit der Anerkennung einer Geschichte kollektiver Unterdrückung von Frauen, ethnischen, religiösen und sexuellen Minderheiten und Menschen mit Behinderungen einhergehen. Die Übertragung von Schadstoffen und toxischen Molekülen auf Kinder über unsere Nabelschnüre muss genauso enden wie die Übertragung von Frauenfeindlichkeit, Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit. Das Welt-Schiff muss hier und dort gebaut werden. Getragen von den Kämpfen von gestern, ermöglicht die Takelage des Welt- Schiffs von heute, den Horizont einer Welt von morgen zu zeichnen.
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Auszug aus «Decolonial Ecology: Thinking from the Caribbean World», Malcom Ferdinand, 2022
Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Hamm Originalausgabe Éditions du Seuil, 2019
Zum Essay
Wie kommen wir einer gerechten Welt einen Schritt näher? Malcom Ferdinand verbindet ökologisches mit dekolonialem Denken, das die koloniale Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Versklavung anerkennt. Er entwirft die Idee einer «Brücke der Gerechtigkeit» auf Basis dreier Pfeiler: volle Rechte für indigene Völker, Reparationszahlungen und Rückgabe kolonialer Kulturgüter. So soll ein «Welt- Schiff», eine Gesellschaft entstehen, in der sich menschliche und nicht menschliche Lebewesen gleichberechtigt begegnen und gegenseitig schützen. Das bewusste Bearbeiten gewaltvoller Vergangenheit eröffnet den Weg in eine lebbare Zukunft für die Menschen von heute und morgen.
Zum Autoren
Malcom Ferdinand ist Umweltingenieur, Politikwissenschaftler und Forscher am Centre national de la recherche scientifique CNRS in Paris. Er arbeitet an der Schnittstelle von politischer Philosophie, Ökologie und postkolonialer Theorie und untersucht die Bezüge zwischen den ökologischen Krisen der Gegenwart und den kolonialen Nachwirkungen der Moderne mit Fokus auf den Schwarzen Atlantik und die Karibik. Ein Auszug aus seinem Buch «Une écologie décoloniale» erscheint hier zum ersten Mal auf Deutsch.
Perspektiven aus dem künstlerischen Programm
Im diesjährigen Festivalprogramm gibt es verschiedene Perspektiven, die Fragen nach einer gerechteren Welt nachgehen. Mehr dazu hier.